© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
KS ELĪNA GARANČA als Amneris
© Wiener Staatsoper / Michael Pöhn
LUCA SALSI als Amonasro

DER WAHRE CHARAKTER offenbart sich in Zeiten der Krise

Es handelt sich zwar um keine Neuproduktion, sondern »nur« um eine Wiederaufnahme, dennoch ist die Aida-Aufführungsserie mehrfach überbucht. Kein Wunder: Die vorgesehene Besetzung, die weltweit ihresgleichen sucht, lässt die Herzen vieler Opernliebhaber höherschlagen zumal KS Elīna Garanča als Amneris sogar ein weltweites Rollendebüt gegeben hat. Mit der gefeierten Mezzosopranistin sowie mit Luca Salsi, dem Sänger des Amonasro, konnten wir ein Gespräch führen.


Amneris täuscht Aida, Aida täuscht Radames, Amonasro gewissermaßen alle Ägypter. Der Einzige, der nicht »falschspielt«, ist Radames: Was sagt das über ihn aus? Was sagt das über die anderen aus?

ELĪNA GARANČA: Obwohl es schwierig ist, in Zeiten von Krisen und persönlichen Dramen einen klaren Kopf zu bewahren – zumal, wenn Kopf und Herz miteinander in Streit liegen – bleibt Radames sich und seinen Überzeugungen immer treu. Gerade darum ist er genau jener Mann, den die Ägypter in Kriegszeiten an der Spitze der Armee haben möchten – kein Wunder also, dass Amneris sich in ihn verliebt hat.

LUCA SALSI: Interessante Frage... Ich denke, dass Radames letztlich nur von guten Absichten angetrieben wird: Liebe zum Land – in dieser Hinsicht durchaus mit Amonasro vergleichbar –, Liebe zu Aida... er ist im Grunde ein einfacher und unschuldiger Charakter – wie alle Tenorfiguren von Verdi. Das gleiche gilt ein wenig auch für Aida. Die Figuren, die immer zum Nachdenken anregen, sind Amneris und Amonasro. Die eine betrügt und hintergeht aus Liebe, der andere aus Eroberungswut und dem Verlangen nach Rache.


Warum rettet Radames Amneris vor Amonasro? Auf mich macht Radames den Eindruck eines Menschen, der es allen recht machen will.

ELĪNA GARANČA: Zuallererst ist es Radames’ Pflicht, seinen König, sein Land und damit auch Amneris zu schützen. Amneris durch Amonasro töten zu lassen, würde ihm keine Vorteile bringen und ihm den Weg zu seiner Liebe nicht leichter machen. Radames ist auf keinen Fall ein Einschleimer, sondern ein Mann, der seiner Pflicht und seinem Schicksal folgt, ohne von seinem Weg abzuweichen, auch wenn er wahrscheinlich unter extremen inneren Konflikten, Frustrationen und Verwirrungen leidet. Was für eine Kraft!


Von Verdi wird gesagt, dass er wie Shakespeare seine Figuren nicht verurteilt, sondern nur zeigt, wie sie sind. Stimmt dieser Befund auch für die Charaktere in Aida?

LUCA SALSI: Auf jeden Fall. Ich denke, Verdi ist immer sehr klar und direkt, wenn es darum geht, die Figuren zu beschreiben und zum Leben zu erwecken. Aida hat eine reine Liebe zu Radames und eine Liebe zu ihrem Land und ihrem Vater... und sie kämpft in diesem Dualismus und wird am Ende dafür bezahlen. Was ist wahrer, als für das, woran man glaubt, zu sterben?

ELĪNA GARANČA: Verdi hatte eine geniale Art und Weise, die Akteure zu porträtieren. Wobei er ihre charakteristischen Eigenschaften oft nicht unmittelbar und direkt, sondern auf einer zweiten Ebene durch ihre Reaktionen auf bestimmte Heraus- forderungen zeigt. Wie man zu Recht sagt, of- fenbart sich der wahre Charakter gewöhnlich in Zeiten der Krise. Und genau diesen Aspekt finden wir in Aida: Ständige Konflikte zwischen dem Inneren und dem Äußeren, in dem die Charaktere ihr wahres Gesicht zeigen. Man stellt sich in Aida nicht einfach auf die Bühne und singt eine Arie oder ein Duett, in dem man alles sagt, was man fühlt und will. Vielmehr geht es um die kleinen Nuancen in be-stimmten Situationen, die zeigen, wer man tatsächlich ist.


Amonasro beziehungsweise die Äthiopier sind die eigentlichen Aggressoren – laut dem Boten, hat Äthiopien den Angriff auf Ägypten gestartet. Und auch später wird es wieder Amonasro sein, der eine Schlacht vorbereitet. Das macht er aber nicht, um Aida zu retten?

LUCA SALSI:  Nein. Ihm geht es ausschließlich um die militärische Eroberung. Ich glaube nicht, dass das Wohl seine Tochter auch nur einen einzigen Moment lang für Amonasro eine Rolle spielt, vielmehr nützt er sie und ihre Gefühle strate- gisch aus, um seine Kriegspläne umsetzen zu können. Ich glaube also nicht, dass Amonasro ein guter Mensch ist. Es stimmt zwar, dass er gefangengenommen wurde und dass sein Volk leidet, aber er ist versessen darauf, seinen Krieg zu gewinnen. Dadurch ist er zu allem bereit, sogar zur Aufopferung seiner eigenen Tochter.


Also wieder eine dieser höchst problematischen Vater-Figuren bei Verdi.

LUCA SALSI: Genauso ist es!


Welche Partie ist stimmlich dramatischer: Kundry oder Amneris? Wann war für Sie klar, dass Sie die Amneris in Ihr Repertoire aufnehmen? Wieso gerade hier in Wien?

ELĪNA GARANČA: Weder Kundry noch Amneris sind langweilige Frauen, Rollen oder Figuren. Stimmlich erfordert allerdings jede von ihnen einen gänzlich anderen dramatischen Ansatz. Während Kundry Volumen und Ausdauer braucht, um die Kraft und das Drama über den Wogen des Orchesters aufzubauen, erkundet Amneris sozusagen alle Nuancen vertikal, vom hysterischen Forte bis zu den ersterbenden Piani. Schon als Kind, als ich zum ersten Mal Aida hörte und die Partitur in den Händen hielt, war mir augenblicklich klar, dass ich eines Tages Amneris werden wollte. Meine Pläne, diesen persönlichen Mount Everest zu erreichen, wurden mehrmals verschoben, das ursprünglich geplante Debüt fiel einmal der Pandemie und dann einer Erkrankung zum Opfer. Umso mehr freue ich mich, dass ausgerechnet die Bühne der Wiener Staatsoper, meine künstlerische zweite Heimat, zum Geburtsort meiner Amneris wurde. Die Wiener Staatsoper ist ein Haus, in dem ich mich einerseits geborgen und willkommen fühle, andererseits aber auch nie aufgehört habe, an mich die allerhöchsten Maßstäbe zu setzen. Es könnte nicht besser sein.


»Ritorna vincitor« – Amneris fürchtet, dass Radames eine andere liebt. Aber sie scheint keine Angst zu haben, dass er in der Schlacht fallen könnte. Wieso?

ELĪNA GARANČA: Vielleicht trägt sie der Glaube, dass ein großer Krieger wie er grundsätzlich niemals im Krieg fällt, oder der Glaube, dass ihre Liebe so stark ist, dass sie ihn dadurch am Leben erhalten würde. Aber auch die Überzeugung, dass eine Schlacht einfach nicht das Ende ihres Traums sein kann, des Traums vom neuen Leben an der Seite von Radames.


Würde Amonasro, wenn Aida und Radames geflohen wären, die Liebe zwischen den beiden in Äthiopien akzeptieren – oder alles versuchen, den ehemaligen feindlichen Feldherrn von Aida loszubekommen?

LUCA SALSI: Ich bin überzeugt, dass er die Verbindung der beiden erlauben würde. Im Terzett des Nilakts sagt er nicht umsonst zu Radames: »Tu non sei colpevole« – »Du bist nicht schuldig«. Amonasro, der Menschenkenner, weiß sehr gut, dass Radames ein reiner, aufrechter Charakter ist. Er hasst nur die Ägypter an sich, also den feindlichen, zu bekämpfenden Staat.


Es heißt immer wieder, dass die Sängerin der Violetta in der Traviata zumindest drei verschiedene Stimmen braucht. Wie sieht es diesbezüglich mit Amneris aus?

ELĪNA GARANČA: Aktuell sehe ich eine Amneris, die sich von ihrer Vergangenheit befreien und ein neues Leben beginnen will, Amneris, die verliebt ist, eine Amneris, die in heilloser Konkurrenz zu einer anderen Frau steht, eine Amneris, die sich in Gebeten verliert und eine Amneris mit einem gelegentlichen Anflug von Verzweiflung und Nihilismus. Aber wir werden sehen, wie viele Stimmen ich in ein oder zwei Monaten aufzählen werde.


Rigoletto und Macbeth sind vielschichtige Persönlichkeiten. Amonasro scheint diesbezüglich etwas abzufallen: Gibt es überhaupt eine Entwicklung seines Charakters im Laufe der Oper? Ist musikalisch eine solche zu erkennen?

LUCA SALSI: Nein, er ist eine sehr simpel gestrickte Figur. Und auch schauspielerisch wie stimmlich sind die Herausforderungen eher gering. Amonasro ist eine meiner »Ausruh«-Rollen. (lacht) Das Duett mit Aida hat einige Passagen, die etwas schwieriger sind, aber das ist nichts im Vergleich zu Rigoletto oder Macbeth.


Amneris könnte Aida als Nebenbuhlerin problemlos jederzeit töten lassen – warum tut sie das nicht?

ELĪNA GARANČA: Ich schätze, Aida zu töten wäre einfach weniger unterhaltsam. (lacht) Nein, im Ernst: Ich glaube, dass sich für Amneris durch die Präsenz der Aida eine andere emotionale, psychologische Welt öffnet. Durch Aida erlebt Amneris, die in einer Männerwelt groß geworden ist, etwas völlig Neues und Unbekanntes: Eine starke Frau.


Wo ist die für Sie zentrale Stelle in der Amneris – sowohl von der Herausforderung her als auch inhaltlich?

ELĪNA GARANČA: Angeblich hätte die Oper Amneris heißen müssen, deswegen ist eigentlich jeder Auftritt dieser Pharaonentochter von besonderer Wichtigkeit für die Entwicklung des Charakters. Aber natürlich ist die Gerichtsszene für jede Sängerin die Krönung. Die muss »sitzen«. Stimmlich überragt sie zwei Oktaven, geht dynamisch vom Pianissimo bis zum Fortissimo – da sind zahllose Herausforderungen zu meistern. Ich finde, dass Amneris sich in diesem Moment auf gewisse Weise selber aufgibt und sich mit ihrem eigenen Ich konfrontiert. Sie beginnt sich die essenziellen Fragen zu stellen: Was sie ist – als Mensch, als Frau und als Königin; woher sie kommt, was sie in einer Welt soll, die sie bisher nicht kannte.


Wieso reißt Amonasro auf seiner Flucht Aida mit sich? Um sie zu retten? Oder um zu verhindern, dass Radames sie bekommt?

LUCA SALSI: Sicher, um sie vor Amneris zu retten. Aber das nicht unbedingt aus väterlichen Gefühlen heraus, sondern, um eine Karte zu behalten, die man mit Radames ausspielen könnte.


Besitzt Amneris so wenig Macht, dass sie Radames nicht retten kann? Immerhin ist sie die zukünftige Herrscherin.

ELĪNA GARANČA: Nun, sie soll tatsächlich die zukünftige Königin werden, aber erst, wenn sie den König »gefunden« hat. Bis dahin ist sie nur eine Königstochter, und kann noch so sehr versuchen, die Meinung der Einflussreichen zu ändern und Urteile abzumildern – sie wird keinen großen Erfolg haben. Letztlich bedingt gerade die Tatsache, dass all ihre Macht nur hypothetisch ist, einen Teil ihrer Frustration. Darüber hinaus merkt sie, wie wenig Einfluss sie über ihr eigenes Leben, ihre Wünsche und Träume besitzt.


Dass Radames und Aida einander lieben, ist Amneris recht bald klar. Was soll dann dieser verzweifelte Kampf um Radames? Man kann ja niemanden zur Liebe zwingen? Möchte sie einen Radames, der sie aus Dankbarkeit liebt, weil sie ihn vor dem Gericht rettet?

ELĪNA GARANČA: Von Anfang an spürte Amneris tief in ihrem Inneren, dass ihre Liebe zu Radames nicht erwidert wird und dass seine Gefühle eher als Loyalität zum Königreich zu werten sind. Und so denkt sie nie daran, ihn zu zwingen, Gefühle für sie zu entwickeln, obwohl sie ahnt, dass Radames’ Herz für eine andere schlägt. Außerdem konkurriert sie mit Aida in einem sehr weiblichen Kampf, bei dem es darum geht, die Bessere, Schönere, Gütigere und Barmherzigere zu sein. Haben Sie schon einmal erlebt, wenn zwei Frauen um einen Mann kämpfen? Meistens ist es der Mann, der am wenigsten verletzt aus dem Kampf hervorgeht. (lacht) Natürlich hoffte sie, dass Radames sie so sehen würde, wie sie ist und dass er erkennt, was sie alles sein könnte. Aber es war ihr wie gesagt immer klar, dass man ein Herz nicht erzwingen kann.


Reift ihre Liebe am Ende zu einer selbstlosen Liebe, wenn sie den Eingemauerten besingt?

ELĪNA GARANČA:  Wir beten oder schauen zu einer höheren Macht auf, wenn wir uns wünschen, dass etwas Neues geboren wird oder wenn etwas zu sterben droht. In der Schlussszene weiß Amneris, dass sich ihr Leben für immer verändern wird. Vielleicht betet sie darum, dass sich der Himmel für Radames und Aida öffnet, und vielleicht betet sie um die Kraft, sich der Einsamkeit und der Last der unerfüllten Träume zu stellen. Aber auch um die Hoffnung, die Liebe wieder erleben zu können. So oder so: zu leben ist manchmal schwieriger, als geliebt zu sterben.


Alle vier Hauptfiguren sind tragisch angelegt: Mit welcher Figur haben Sie am meisten Mitleid?

LUCA SALSI: Sicher mit Aida. Sie liebt den falschen Mann, sie hat den schlechtesten Vater und am Ende stirbt sie.

ELĪNA GARANČA: Am Ende tatsächlich die Amneris, da sie meiner Meinung nach am Ende sogar das Selbstverständnis ihrer Existenz verloren hat. Jeder der Handelnden hat in dieser Oper eine Aufgabe gehabt – das Volk zu schützen oder für die Heimat zu sterben. Was für Amneris als »kleine Caprice der Liebe« angefangen hat, endet im Zusammenbruch des eigenen Ichs, ihres bis dahin gelebten psychologischen und emotionalen Daseins. Ich würde mich nicht wundern, wenn Amneris wenig später ihren eigenen Vater tötete. Oder auch sich selbst. Das letzten »Pace, Pace« der Amneris könnte jedenfalls sowohl ein Ende wie auch einen Anfang symbolisieren. Leider wissen wir nicht, welche der beiden Optionen zutrifft, da die Oper an diesem Punkt der Geschichte endet.


AIDA
14. (Wiederaufnahme) / 18. / 21. / 24. Jänner 2023
Musikalische Leitung Nicola Luisotti
Regiekonzept Nicolas Joel
Bühne & Kostüme Carlo Tommasi
Choreographie Jan Stripling
Mit u.a. Ilja Kazakov / KS Elīna Garanča /
KS Anna Netrebko / KS Jonas Kaufmann / Alexander Vinogradov / Luca Salsi /
Hiroshi Amako / Anna Bondarenko