Der Vater aller Takte
Der finnische Dirigent Mikko Franck präsentierte sich 2014 bei der Lohengrin-Premiere als Klangmagier, der einen süffigen und berückenden Ton zu erwecken versteht. Sein außerordentliches Gehör, sein analytisches Hören und die präzise Dirigiertechnik machen ihn zusätzlich zum Wunschdirigenten vieler Musiker und Sänger. Nun leitet er mit Elektra seine dritte Premiere im Haus am Ring.
Sie feierten eben mit der Ballett-Premiere Josephs Legende und Verklungene Feste einen großen Erfolg. Seit den Proben zu diesen Werken kursieren hier im Haus erste Franck-Legenden. Etwa, dass Sie einen seit 100 Jahren unkorrigierten Halbton-Fehler in einer Instrumentalstimme aus dem vollen Orchesterklang herausgehört hätten. Ist das eine besondere Begabung?
Mikko Franck: Nein, einfacher: Es ist mein Beruf. Der Beruf des Dirigenten beinhaltet, dass er gut zuhört und, falls falsche Noten vorkommen, diese auch ausbessert. Egal, ob es sich um historisch überlieferte Druckfehler, Lesefehler oder Fehler während des Spielens handelt. Man hört zu – und bessert aus.
Fangen wir am Anfang einer Produktion an. Gibt es für Sie einen üblichen Ansatzpunkt? Also etwa die Atmosphäre eines Stückes oder die Architektur?
Mikko Franck: Der Ansatzpunkt ist die Partitur. Da finde ich alles, was ich wissen muss, alle Informationen, die uns der Komponist geben wollte. Diese lese ich immer und immer wieder, beschäftige mich mit den einzelnen Gestaltungselementen – meistens übrigens im Flugzeug, weil ich dort viel Zeit habe und nicht gestört werde. Das mache ich bis zu dem Punkt, an dem die Partitur zu mir zu sprechen beginnt. Und umso mehr wir miteinander sprechen, desto klarer wird das Gesamtbild des Werkes für mich. Ein Zugang, der sich immer wieder wiederholt ist, dass ich zunächst die erste und die letzte Seite studiere: alles andere, was dazwischen passiert, hat Zeit. Aber wie es beginnt und wo es hinführt, das sind zwei ganz wichtige Koordinaten. Das ist nebenbei der Grund, warum ich in meiner Freizeit nicht viele Romane lese, denn ich habe mir diese Erste-letzte-Seiten-Technik auch hier angewöhnt, was dem literarischen Spannungsbogen nicht besonders gut tut. (lacht)
Im Falle von Richard Strauss gibt es eine reichhaltige, auf Aufnahmen rezipierbare Klang-Tradition, die in die Lebenszeit des Komponisten zurückreicht.
Mikko Franck: Der Interpret muss die Geschichte eines Werkes genau kennen. Das ist ganz klar – und es ist ungemein spannend. Gerade in einem solchen Haus wie der Wiener Staatsoper, an der es sogar Strauss-Uraufführungen gegeben hat. Und gerade darum ist es ja auch so toll, an einem solchen Haus zu arbeiten. Beeinflusst dieses Wissen aber meine Art zu dirigieren? Nein. Weil ich heute, im Jahr 2015 lebe. Meine Arbeit besteht nicht darin, ein historisches Portrait zu machen und einen Versuch zu unternehmen, die Musik so zu spielen, wie sie vor 100 Jahren erklang. Was hätte das für einen Sinn? Die Gesellschaft ist eine andere, unsere Wahrnehmung eine andere, das Publikum ein anderes, der gesamte Background ist ein anderer. Ich mache Musik in der heutigen Zeit für die heutige Zeit! Wie gesagt: Die Kenntnis der Geschichte ich wichtig, aber eine Wiedererweckung des Historischen ist weder möglich noch sinnvoll. Die Staatsoper ist ein lebendiger Ort an dem lebendige Kunst erzeugt wird. Alles andere wäre ein Museum.
Das bedeutet aber auch, dass es keine für immer gültige Interpretation geben kann?
Mikko Franck: Ich denke, es gibt an sich keine musikalische Aussage, die immer gültig ist. Wir Menschen von heute müssen uns als Menschen von heute treu bleiben. Wenn wir das, was vor 100 Jahren, am Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden ist, genau so wiedergeben wollen, wie es zur Zeit der Entstehung war, dann müssten wir in einer isolierten Kammer leben und keine Einflüsse aus dem Hier und Jetzt erhalten. Denn alles, was passiert, beeinflusst uns Künstler. Und soll es auch!
Strauss notierte beschreibend in seinem Skizzenheft in Bezug auf Elektra immer wieder Bewegungselemente, zum Beispiel: „Wie ein Tier“. Ist dieses Bewegungshafte in die Musik eingegangen?
Mikko Franck: Das ist schwierig zu sagen. Ich denke, dass es auch eine Frage der Interpretation ist. Wenn ich Musik mache, dann möchte ich ganz allgemein nicht zuviel darüber nachdenken, was sie im Innersten für den Komponisten bedeutet hat – weil das etwas ist, was heute nicht mehr wirklich nachvollzogen werden kann. Ich nehme die Musik, die ein Komponist niedergeschrieben hat und frage mich: Was bedeutet sie für mich? Ich versuche, das Bestmögliche, was ich vermag, aus dieser Partitur herauszuholen. Genauso finde ich es weder notwendig noch sinnvoll darüber zu sprechen, was eine Musik für mich im Innersten bedeutet; selbst dann, wenn ein Stück oder eine Stelle etwas sehr Klares und Konkretes für mich bedeuten. Warum? Weil es für den Zuhörer absolut unerheblich ist. Jeder und jede einzelne im Zuschauerraum hat dasselbe Recht, eine individuelle Erfahrung zu machen, die auf ihrem oder seinem Leben basiert.
Und alle Erfahrungen und Bedeutungsfindungen sind gleich wichtig!
Gibt es für Sie den ultimativen Elektra-Aspekt? Der sich von allen anderen Strauss-Werken unterscheidet?
Mikko Franck: Darüber habe ich noch nicht so nachgedacht … Ich sehe nämlich jedes Werk individuell für sich alleine. Also wenn ich an Elektra arbeite, dann geht es um Elektra, nicht um Salome. Abgesehen handelt es sich um eine physische Frage: Die Partituren dieser Opern sind so schwer, dass man ohnehin immer nur eine mit sich herumtragen kann. (lacht)
Und schließlich: Gibt es für Sie persönlich einen Moment in der Oper, den Sie am meisten schätzen?
Mikko Franck: Hm. Lassen Sie mich nachdenken. Doch, es gibt eine Passage, die für mich ganz besonders ist. Sie beginnt mit dem ersten Takt und endet mit dem letzten (lacht). Es kann gefährlich sein, eine einzige besondere Stelle zu lieben: Was macht man, wenn sich diese Stelle in der Mitte der Oper befindet und man nach ihr noch eine Stunde dirigieren muss? Nein, ich halte es lieber so, wie Eltern mit mehreren Kindern: Da stellt sich die Frage ja auch nicht, welches man am meisten liebt. Ich also liebe alle Takte – gleichermaßen!
Das Gespräch führte Oliver Láng