DER TOD IM APOKALYPTISCHEN WIMMELBILD
Georg Nigl gehört zu den charismatischsten Sängerdarstellern der internationalen Opernszene: Seine enorme stimmliche wie schauspielerische Wandlungsfähig prädestiniert ihn geradezu für ein gewaltiges Repertoire: mit einer Bachkantate oder einem Schubertlied weiß er das Publikum zu Tränen zu rühren, mit einem Papageno oder dem Eisenstein in der Fledermaus zeigt er sein tiefgründig-komisches Talent, als Opfer-Täter Wozzeck leuchtet er weit in die seelischen Untiefen eines von der Gesellschaft ausgegrenzten psychisch labilen Grenzgängers und diversen (vermeintlichen) Bösewichtern – etwa dem Alberich aus Wagners Ring – verleiht er jene lauernde Bedrohlichkeit, die nur exzellenten Interpreten in dieser Intensität gelingt. Oberflächliches ist Nigl jedenfalls fremd, ohne sich jemals zu schonen, widmet er sich – sei es in den Proben, sei es in den Vorstellungen – mit einem geradezu 150prozentigen emotionalen Einsatz der jeweiligen Rollengestaltung. Kein Wunder, dass er auf den wesentlichsten Bühnen der Welt geradezu herumgereicht wird. Zur Wiener Staatsoper besitzt der Wiener Bariton seit einigen Jahren ebenfalls ein schönes Naheverhältnis: Nach den bisherigen Auftritten als Papageno, Eisenstein, der Titelpartie in Manfred Trojahns Orest und zuletzt den Titelpartien in den beiden Monteverdi-Premieren L’Orfeo und Il ritorno d’Ulisse in patria folgt nun mit dem dämonischen Nekrotzar in Ligetis Le Grand Macabre eine weitere herausfordernde und zugleich sehr markante Bühnenfigur der Opernliteratur. Anlässlich der Proben zur Staatsopernerstaufführung dieses Klassikers des späten 20. Jahrhunderts gab er Andreas Láng das folgende Interview.
AL Wer ist dieser Nekrotzar? Der apokalyptische Tod, wie er selber behauptet, ein Gaukler oder gar ein armer Irrer?
GN Im Original von Michel de Ghelderode ist er definitiv ein Schauspieler, Ligeti lässt das für seine Oper aber bewusst offen. Ich lege ihn in meiner Rollengestaltung als großes Kind an. Eines, dem man einst etwas Essenzielles weggenommen hat und der dadurch eine psychische Verletztheit davongetragen hat. Wichtig ist mir, von der allzu komikhaften Darstellung wegzukommen, aber auch ein herumbrüllender Typ mit einer Sense in der Hand ist mir zu wenig, zu eindimensional. Die Rolle bedarf einer Breite und Tiefe – vergessen wir nicht, dass Nekrotzar, zumindest laut seiner eigenen Behauptung, so üble Gestalten wie Nero oder Caligula ausgelöscht und damit der damaligen Gesellschaft einen Dienst erwiesen hat. So böse Nekrotzar also ist, man könnte ihm zugleich für manches dankbar sein. Und seltsam: Wenn er am Ende in seiner Betrunkenheit merkt, dass etwas nicht stimmt, dass er einen Fehler gemacht hat, wirkt er mit einem Mal ungemein vereinsamt und erweckt dadurch mein Mitleid – obwohl ich den Tod an sich grundsätzlich als einen Skandal empfinde.
AL Glaubt Nekrotzar eigentlich an seine eigene Weltuntergangsverkündigung?
GN Klar, er kommt als völlig abgehobener finsterer Triumphator daher. Leider existieren solche Typen auch im realen Leben, nicht zuletzt in der Politik. Wenn ein Putin Reden schwingend in einem Stadium auf- und abschreitet, ist er nicht weit weg von den wahnsinnigen Attitüden dieses fiktiven Todespropheten. Dass Nekrotzar schlussendlich von den skurrilsten, den verrücktesten Randgestalten der Handlung besiegt wird, ist natürlich dem bösen Humor des Werkes geschuldet, ein böser Humor, den Ligeti unentwegt nachschärft. Man könnte es aber zugleich als eine Art Hoffnung sehen, dass die gefährlichsten Gestalten sogar über gesellschaftliche Randgestalten stolpern können. Leider ist es aber andererseits so, dass wir so vieles und viele, die nicht in das Mainstreamkorsett der Gegenwart passen, so sehr an den Rand drängen, dass sie verloren gehen. Das gilt im weiteren Sinne genauso für die Länder des globalen Südens. Was dort für Talente vor die Hunde gehen, die uns vielleicht Lösungen für die großen Fragen und Krisen der Menschheit geben könnten, ist erschreckend. Es gibt eine schöne Passage in Exupérys Roman Wind, Sand und Sterne, wo der Autor berichtet, wie er in einem vollen Zug zusammengepferchte Flüchtlinge vorfindet und unter ihnen ein kleines, schlafendes, verletzlich wirkendes Kind. Ein Kind, so Exupéry, das vielleicht die Anlagen eines Mozart besitzt, die aber in dieser Umgebung nie zur Entfaltung gelangen können. So gesehen ist Grand Macabre auch ein Aufruf, den Rand der Gesellschaft und der Menschheit wieder zurückzuholen, zu beachten, da die Hilfe vor einer Apokalypse vielleicht dort zu finden ist.
AL Sollte Nekrotzar der Tod sein, ist mit seinem Verschwinden, mit seiner Überwindung die Menschheit unsterblich geworden. Ein Happy End?
GN Wir sehen in dieser Oper eine Nacht, ein Detail aus dem Menschheitsgeschehen mikroskopisch vergrößert. Nekrotzar wurde ein Schnippchen geschlagen, aber ob das schon ein Happy End bedeutet? Gerade in Wien gibt es ja eine schöne und mannigfaltige Sagentradition, in der der Tod immer wieder überlistet wird, ohne, dass dadurch am Ende eine dauerhafte Unsterblichkeit Platz greift. Ich halte den Sieg über Nekrotzar nur für etwas Vorübergehendes. Zumal die Menschen genau so sind, wie sie sind: Sie ändern nur dann etwas zum Guten, wenn sie wirklich müssen. Und dieses verantwortungslose Drauflosleben, ohne Rücksicht auf irgendjemanden und irgendetwas wie wir es in Grand Macabre in diesem erfundenen, wimmelbildartigen Breughelland vorgeführt bekommen, kann auf Dauer nicht funktionieren. Ein aktuellerer Kommentar zur Klimakrise kann auf der Opernbühnen gar nicht gesetzt werden. Nekrotzar ist tot, aber es wird schon eine neue Möglichkeit entstehen, der Menschheit das Fürchten zu lernen.
AL Sie haben vorhin angedeutet, gegen Schluss hin sogar Mitleid mit Nekrotzar zu empfinden. Soll auch das Publikum Mitleid mit dieser sonderbaren Figur bekommen? Immerhin geht es möglicherweise um den echten Tod.
GN Ich habe die Zeit des Einstudierens dieser Rolle als nicht sehr angenehm empfunden, da so ein Charakter ja etwas mit einem selbst macht. Natürlich bin ich nicht wie ein Wahnsinniger, meine Familie anschreiend, in der Wohnung herumgelaufen. Aber ganz fern konnte ich Nekrotzar von niemandem in meiner Umgebung halten. Auf der Bühne ist es etwas anderes. Da will ich ja in anderen Menschen Gefühle und Emotionen auslösen. Wenn es mir nun in diesem Sinne gelänge, die Zuschauer im Publikum zu erreichen und irgendeine Form der Empathie auszulösen – ja, auch gegenüber dem gescheiterten Nekrotzar – dann habe ich viel erreicht. Es geht nämlich darum, den Zuschauer zu beschleichen, ihm auch durch und über einen Nekrotzar etwas über ihn selbst zu erzählen. Man sollte nämlich durchaus die Frage zulassen, wie viel Nekrotzar in jedem von uns steckt! Und darum ist es wichtig, dass das Publikum nicht bloß zuschaut, wie der Nigl eine merkwürdige Gestalt mimt, sondern emotional aufgebrochen wird. Sich selbst und den anderen gegenüber.
AL Schon beim schnellen Lesen der Macabre-Partitur fallen die enormen Herausforderungen an die Sängerinnen und Sänger auf. Worin bestehen diese im konkreten Falle des Nekrotzar?
GN Zunächst liegt die Tessitura sehr unangenehm. Die Partie weist sowohl sehr hohe als auch sehr tiefe Passagen auf. Dann gibt es viele Übergänge vom Sprechen ins Schreien, vom Sprechgesang ins Singen bzw. ins pathetische Singen und umgekehrt – der Interpret kann sich daher keinen Augenblick lang schonen. Manche Stellen weisen wiederum ein enorm rasches Tempo auf, bei denen in kürzester Zeit viel Text unterzubringen ist: Da hat man keine Zeit nachzudenken, da muss alles automatisiert kommen – und das Publikum soll den Text ja verstehen, das ist schließlich eine der primären Aufgaben des Gesanges. In der zweiten Szene etwa gibt es ein Terzett, das ich Maschinengewehr-Trio nenne, weil es so schnell dahinrattert. Allein an diesen drei Minuten habe ich zwei Wochen studiert! Das muss sitzen bei der Vorstellung, denn jeder, der an dieser Stelle aussteigt, findet nie wieder hinein. Bombensicher muss der Sänger auch bei manchen rhythmisch heiklen Folgen sein, die nach außen hin natürlich und leicht zu wirken haben. So etwa gleich beim ersten Auftritt Nekrotzars: Ligeti wollte, dass es wie frei gesprochen klingt. Daher kommt praktisch nichts auf eine betonte Taktzeit, nahezu alles ist synkopiert. Das kann nur bewältigt werden, wenn der Interpret einen steten inneren Puls aufgebaut hat, an dem er sich orientieren kann. Ähnliches gilt für die Szene, in der Nekrotzar betrunken gemacht wird. Mein Anspruch ist überdies, dass das Ganze nicht nur nach Stimmmaterial, sondern schön klingen soll – mit der Kunstfertigkeit des Operngesanges vorgetragen.
AL Das klingt alles so kompliziert, dass man sich fragt, wo der Freiraum für die Interpretation bleibt?
GN Ich komme gewissermaßen aus der Urtextwelt, nehme also die Musik und den Text sehr ernst. Das gilt für Mozart, Haydn, Schubert, Wagner, Monteverdi genauso wie für Rihm, Neuwirth, Dusapin, Cerha – und eben auch für Ligeti. Nichtsdestotrotz vertrete ich die Überzeugung, dass der Interpret ebenfalls eine schöpferisch-gestaltende Kraft besitzt, Persönliches beizusteuern hat. Da wir ein Werk mit den heutigen Ohren und nicht mit jenen der Entstehungszeit hören, ist der Interpret geradezu verpflichtet, manches entsprechend zu adaptieren. Außerdem können Anweisungen des Komponisten verschiedenartig gedeutet werden: Wenn Ligeti an einer Stelle schreibt: »Schreit um sich«, so kann dieses Schreien sehr unterschiedlicher Qualität sein. Soll es klingen wie das Brüllen beim Militär? Das Schreien eines Kindes? Das Schreien eines Opernsängers? Da liegen die Freiheiten für den Sänger. Die Betrunkenenszene am Schluss werde ich beispielsweise auf eine ganz neue, eigene Weise bringen. Mich erinnert die Musik an dieser Stelle an eine völlig verzerrte Heurigenmusik und so orientiere ich mich hier ein wenig an einem Hans Moser oder Paul Hörbiger.
AL Wenn man eine Rolle einstudiert, entwirft man automatisch eigene Bilder der jeweiligen Figur. Diese treffen dann auf die Ideenwelt des Regisseurs. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie für die Figur des Nekrotzar im Laufe der Probenzeit gewonnen?
GN Ich nehme natürlich sehr gerne Anregungen an, überrasche aber genauso gerne Regisseure mit eigenen Vorschlägen. Es macht mir sogar regelrecht Spaß, ein vorbereitetes Konzept anzureichern oder sogar etwas auszubeulen. (lacht) Im Falle des Nekrotzar gibt es aber tatsächlich ein nicht unwichtiges Detail, das mir erst durch die Arbeit an dieser Produktion klargeworden ist: Die Bereitschaft Nekrotzars, alles um sich genau zu betrachten. Er ist nämlich schon sehr an dem interessiert, was um ihn herum vorgeht. Ich hatte eher einen Ego-bezogenen Wahnsinnigen vor Augen gehabt. Aber durch diese Regie merkte ich, wie sehr Nekrotzar auf all das reagiert, was um ihn herum geschieht. Und das ist sehr viel – ich sprach ja schon vom Wimmelbildcharakter des Stückes, der zusätzlich auch auf die Inszenierung mit seiner choreografierten Tänzerschaft zutrifft. Im Grunde befindet sich Nekrotzar somit sogar in derselben Position wie das Publikum.
GYÖRGY LIGETI
LE GRAND MACABRE
11. 14. 17. 19. 23. NOVEMBER 2023
Musikalische Leitung PABLO HERAS-CASADO
Inszenierung & Bühne JAN LAUWERS
Kostüme LOTLEMM
Licht KEN HIOCO
Choreographie PAUL BLACKMAN & JAN LAUWERS
Dramaturgie ELKE JANSSENS/EMILY HEHL
Nekrotzar GEORG NIGL
Chef der Gepopo/Venus SARAH ARISTIDOU
Fürst Go-Go ANDREW WATTS
Amanda MARIA NAZAROVA
Amando ISABEL SIGNORET
Astradamors WOLFGANG BANKL
Mescalina MARINA PRUDENSKAYA
Piet vom Fass GERHARD SIEGL
Weißer Minister DANIEL JENZ
Schwarzer Minister HANS PETER KAMMERER