Der Schrei nach Liebe
Informationen & Karten »Salome«
Die US-amerikanische Sopranistin Jennifer Holloway – sie singt in dieser Spielzeit u.a. die Sieglinde (Walküre) in Paris, Chrysothemis (Elektra) und Elisabeth (Tannhäuser) in Hamburg – debütiert mit der Titelpartie in Richard Straussʼ Salome an der Wiener Staatsoper. Mit Oliver Láng sprach sie über Salomes und Jochanaans Zugang zu Liebe und Macht und legte dabei auf einen Aspekt – die Verantwortung der Elterngeneration – besonderes Augenmerk.
Beschäftigt man sich mit einer Rolle zum ersten Mal, gibt es unterschiedliche Wege der Annäherung: etwa über die Musik oder den Charakter. Was sticht Ihnen als erstes ins Auge, wenn Sie eine Rolle studieren?
JENNIFER HOLLOWAY Das ist eine knifflige Frage! Ich würde sagen, der Charakter, die Persönlichkeit, aber es ist ja nicht möglich, einen Charakter ohne die Musik zu entwickeln. Die Musik ist der Charakter, der Text die Detailarbeit, die die Figur noch lebendiger und individueller macht. Und die besondere Kombination von Musik und Text, die eine Geschichte erzählt – das ist Oper. Ich suche daher stets nach Rollen, in denen meine Stimme sowohl die musikalische als auch literarische Geschichte auf spannende Weise erzählen kann. Dazu kommen neue und weiterführende Gedanken von Regisseurinnen, Dirigenten, Stimm-Coaches und Kolleginnen, die mir helfen, diese Theater-Reise noch zu vertiefen. Denn ich verliebe mich stets noch stärker in meine Figuren, wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen zusammenarbeite. Ja, ich lebe förmlich von dieser Zusammenarbeit! Schließ- lich gibt es unendlich viele Sichtweisen und Möglichkeiten – viel mehr als nur Musik oder nur Worte bieten könnten – und daher ist die Oper eine so aufregende Kunstform.
Das Gespräch führte Oliver Láng
Bild Arielle Doneson
Richard Strauss schrieb, dass Jochanaan in seiner Salome »eigentlich der perverseste der ganzen Gesellschaft« sei, er ist also, entgegen vieler Sichtweisen, kein Sympathieträger per se. Was fasziniert Salome an ihm? Dass er »anders« ist? Ist es die Strenge? Sein Glaube?
JH Salome fühlt sich zunächst von dem Geheimnis angezogen, das Jochanaan umgibt wie auch von der seltsamen Macht, die er über Herodes und ihre Mutter hat. Als der Prophet mit einer so unglaublichen Liebe zu seinem Gott und zu diesem neuen König spricht, ist sie tatsächlich berauscht. Er gibt ihr die Hoffnung, dass sie geliebt, ihr vergeben und sie aus dem Gefängnis ihres eigenen Lebens befreit werden kann. Ihre verzweifelte Sehnsucht nach dieser Liebe manifestiert sich in der einzigen Art und Weise, wie sie Liebe bisher wahrgenommen hat – durch Körperlichkeit. Würde Jochanaan seiner eigenen Botschaft folgen und dieses junge Mädchen tatsächlich als potenzielle Jüngerin sehen, könnte er ihren Weg ändern. Aber er ist geblendet durch die eigene Unfähigkeit, seine lüsternen Gedanken und Empfindungen unter Kontrolle zu halten und sucht krampfhaft nach einer Möglichkeit, in dieser Situation seine Macht aufrechtzuerhalten. Dabei ignoriert er aber das bedürftige Kind zu seinen Füßen. Jochanaan ist auf ähnliche Weise grausam und pervers wie moderne Fundamentalisten aller Art: »Die Regeln gelten nicht für mich. Aber sie werden dir auferlegt, damit ich selbst davon profitiere.« Er predigt Liebe und Vergebung für alle und dass Gott der Einzige ist, der richten kann, aber letztendlich macht er sich selbst zum Richter und Geschworenen. Obwohl er Salome verspricht, dass alle Menschen angenommen werden und ihnen vergeben wird, hält er sie für unwürdig und verdammt sie.
Ist sie nun ein Opfer oder eine Täterin? Soll ihr unsere Sympathie gehören? Wir neigen dazu, sie zu mögen, weil Herodes und Herodias so abstoßend sind. Aber sie ist die Tochter der Herodias, also hat sie vielleicht einige Aspekte des Charakters ihrer Mutter geerbt?
JH Ich bin mir sicher, dass alle Figuren in dieser Oper Opfer sind – aber dieses Kind ist ein Opfer aller. Salome ist ein missbrauchtes junges Mädchen, das Fürsorge, Liebe und Bindung will und braucht, stattdessen aber vernachlässigt wurde. Sie sucht nach Liebe und Aufmerksamkeit. Was sie wirklich benötigt, sind Zuneigung, Anerkennung und Anleitung durch ihr Wohlmeinende. Sie kann um »Liebe« nur auf jene Art und Weise werben und sie nur so weitergeben, wie sie es erlebt hat. Alle um sie herum geben ihr ständig das Gefühl, machtlos zu sein, und daher sucht sie, wie die meisten Teenager, nach Möglichkeiten, ihre eigene Kraft zu entdecken und zu erproben. Daher übt sie über ihre Untergebenen die ihr zur Verfügung stehende Macht aus und beobachtet alle – zum Beispiel Herodias und Herodes –, um zu sehen, wie sie Macht gewinnen. Als sie Jochanaan hört, sieht und spürt, wird sie Zeugin einer Zuversicht und einer respektvollen Liebe zu einer Autoritätsperson, wie sie sie noch nie erlebt hat. Sie möchte sich mit seiner Aura umhüllen und an dem teilhaben, was er erzählt. Ich glaube auch, dass sie diesen »Menschen Sohn«, von dem er spricht, kennen lernen möchte. Für einen Moment ist sie verloren, unschuldig, frei, voller Hoffnung... und geliebt. Dann raubt er ihr das. Und das ist der ultimative Dolchstoß ins Herz. Aber sie will Jochanaan immer noch für sich gewinnen und in dieser anderen Welt neu anfangen. Als er aber geht, wird sie wieder mit ihrem realen Leben konfrontiert, einem Leben der Übersexualisierung, Vernachlässigung und des mangelnden Respekts. Nun hasst sie Herodes noch mehr, denn sie hat den Kontrast zwischen ihm und Jochanaan gesehen. Salome ist entschlossen, seiner Schreckensherrschaft ein Ende zu setzen, und ist bereit, sogar ihre eigene Hoffnung auf ein neues Leben zu opfern, um Macht über ihn zu gewinnen. Salome ist ein Kind. Kann sie etwas anderes sein als ein Opfer? Selbst wenn sie die Tragödie fortsetzt – liegt es nicht in der Verantwortung der Erwachsenen, ihr verantwortungsvoll beizubringen, was richtig ist und was falsch? Diese Geschichte ist ein Beispiel für die Folgen des Verhaltens von Erwachsenen, die sich mehr um ihren Reichtum und ihre Macht kümmern als um die nächste Generation.
Das gesanglich noch einmal besonders fordernde Finale: ist das eine Passage, die einen Abend lang wie ein Damoklesschwert über Ihnen hängt?
JH Eigentlich nicht, aber nur, weil ich mich immer auf diese Schlussszene freue! Ich liebe und begreife diese Szene sowohl stimmlich, textlich, dramaturgisch als auch musikalisch zutiefst und ich erwarte geradezu enthusiastisch jede Gelegenheit, bei der ich Teil dieser Szene werden kann. Ich glaube übrigens nicht, dass ich in den letzten 25 Minuten irgendeine Macht habe, da dieser Schlussgesang von Strauss und Wilde bereits so berückend und makellos geschaffen wurde. Meine einzige Verantwortung besteht darin, ihn mit allen Anwesenden zu teilen.
Das Bedrängende der Gesamtsituation wird durch die vielen, auch lastenden Farben und die üppige Instrumentierung Straussʼ deutlich. Bildet Salomes Jugend einen Kontrast zu der sie umgebenden Welt?
JH Ja, ich denke schon. Da steckt so viel Lebendigkeit, Hoffnung und Leichtigkeit in den Holzbläserpassagen von Salomes Atemzügen frischer Luft wie auch in ihrer Wertschätzung der Natur sowie in ihren Bekundungen der Bewunderung. Ihre Liebe ist rein und einfach und naiv... sie ist noch nicht gefestigt wie jene von Jochanaan und nicht pervertiert wie jene von Herodes. Es ist phänomenal, den Kontrast zwischen diesen süßen, funkelnden Momenten und ihren Zuständen der Frustration, Wut und Verzweiflung mit den plötzlichen Wechseln zu schweren Blechbläsern und tiefen Streichern zu erleben. Die Orchestrierung erzählt diese Geschichte perfekt.