© Wiener Staatsoper / MICHAEL PÖHN
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© Wiener Staatsoper / MICHAEL PÖHN

Der Prägende Moment

Wir alle werden naturgemäß regelmäßig von Menschen, die unseren Lebensweg kreuzen oder ihn ein Stück weit begleiten, geprägt. Bei mir waren es bedeutende Persönlichkeiten wie Nikolaus Harnoncourt, meine Lehrerin KS Hilde Zadek oder die Regisseurin Andrea Breth, mit denen ich zusammenarbeiten und von denen ich lernen durfte. Aber ebenso der große Hans Gillesberger, der in mir noch während meiner Zeit bei den Wiener Sängerknaben in den unzähligen Proben und ebenso vielen Gesangsstunden erst das Fundament des Sängers und Musikers gelegt hatte. Oder auch mein Wahlgroßvater Alfred Nissels, ein Altösterreicher im besten Sinn des Wortes, der aufgrund seiner jüdischen Abstammung in der NS-Zeit fliehen musste und nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich sein neues Zuhause fand. Ihn lernte ich, ebenfalls noch in meiner Sängerknabenzeit im Zuge einer Europatournee, in Paris kennen und besuchte ihn dann später Jahr für Jahr. Er hat mir nicht nur sämtliche Museen und Kunstwerke der Stadt erschlossen, sondern darüber hinaus mein Interesse für alles, das über meine fundierte Klassische-Musik-Inselbildung hinausging, dauerhaft befeuert. Seinen Ratschlag, »Georg, das einzige, das du deinen Kindern mitgeben kannst, ist Liebe und Bildung«, habe ich nie vergessen und versuche ihn bei meinem Sohn und meiner Tochter zu beherzigen. Jedenfalls stürzte ich mich mit großer Freude verstärkt auf die Literatur, Philosophie, Psychologie, Geschichte und Kunstgeschichte. Alles Humus, aus dem ich seither in meiner kreativen Arbeit schöpfen kann!

Was mir im Umgang mit all diesen wunderbaren Menschen zu Hilfe kam, ist mein Bestreben, Fragen zu stellen. Ausgelöst durch eine Grippe-Erkrankung als Neunjähriger, die mich zwei Wochen ans Bett fesselte und zum nahegelegenen Bücherschrank meiner Eltern greifen ließ. Bei Homers Odyssee bin ich begeistert hängengeblieben und da ging es auch schon mit dem Fragen los: »Wer war Zeus, warum hatten die Griechen so viele Götter, wo ist Odysseus überall unterwegs gewesen?« Als Gesangsprofessor in Stuttgart habe ich daher versucht, den Studierenden nicht nur das Singen nahezubringen, sondern ihnen zu vermitteln, wie wichtig das Fragen und Hinterfragen wäre. Schließlich entsteht erst durch den Vorgang des Fragens das erste eigenständige Denken. Und wie wunderbar war es für mich, als ein Nikolaus Harnoncourt während der Probenzeiten auf meine Fragen nicht nur Antworten gab, sondern mich gleich mit weiterführender Literatur versorgte!

Aber es gab nicht nur Menschen, die mich geprägt haben, sondern auch einzelne Situationen, Augenblicke, die mir die die Augen öffneten. Einer liegt schon eine geraume Zeit zurück: 1986 wurde bei der bekannten österreichischen Wohltätigkeitsveranstaltung Licht ins Dunkel ein Lipizzaner-Hengst der Spanischen Hofreitschule versteigert. Es gab einen kleinen Skandal, weil derjenige, der das Pferd ersteigert hatte, die gebotenen umgerechneten ca. 120.000 Euro nicht aufbringen konnte. Pluto Verona, so hieß der Hengst, ging daraufhin an den Zweitbieter, den bekannten Tiroler »Stanglwirt« Balthasar Hauser, der danach sogar ein eigenes Lipizzaner-Gestüt ins Leben rief. Zufällig sah ich im Fernsehen – damals 14 Jahre alt – in einer Ausgabe der Sendung Seitenblicke den Moment, in dem Pluto Verona eine Stute decken sollte. Warum das überhaupt gezeigt wurde, ist mir bis heute nicht klar. Jedenfalls waren rund um den Hengst viele Schaulustige in Feierlaune, die ihn anfeuerten. Und da geschah das Unerwartete: Vollkommen irritiert von all dem Gejohle, begann Pluto Verona, anstatt zu decken, zu tanzen. Alle lachten – nur ich begann zu weinen, weil mir das Pferd unendlich leidtat. Damals hatte ich zwei Dinge begriffen: Erstens, dass eine gute Komödie sich dadurch auszeichnet, dass dem Großteil zum Lachen zumute ist, eine Minderheit aber die Tragik der Situation erkennt 

und tief betroffen sein kann. Und zweitens, dass man auf der Bühne (und auch im Leben), egal, wie das Publikum reagiert, niemals ein »als ob« bieten dürfe, niemals sich selbst verraten dürfe. Wer dem Affen Zucker gibt, wer die Zuschauer beherrschen und lenken will, wer auf der Bühne steht, weil er geliebt werden möchte, hat schon verloren. Als Sänger und Schauspieler muss man in einen Zustand kommen, dass einem die Umgebung und die Reaktionen egal sind und man sich einfach getragen fühlt –, dann kann Kunst entstehen.

Ein anderer essenzieller Augenblick, der mich im Moment reifen ließ, fand während einer Probenpause zu Bizets Carmen in der Grazer Helmut-List-Halle statt. Ich unterhielt mich mit Nikolaus Harnoncourt über Monodie und Monteverdi, weil ich damals – mit dem Lautenisten Luca Pianca – eine CD-Aufnahme plante. Luca, der in Harnoncourts Concentus Musicus regelmäßig mitwirkte, ist einer der versiertesten Barock-Interpreten. Gerade als Harnoncourt zurück in den Orchestergraben gehen wollte, ließ ihn mein »Und wenn ich nicht weiß, wie etwas geht, frage ich einfach Luca«, stoppen. Er drehte sich um und sagte ganz trocken: »Nein, Herr Nigl, Sie müssen sich immer ein eigenes Bild machen.« Dieser Satz hat mich tief erschüttert und mir bis heute eines klargemacht: Überprüfe alles und lass dir von niemandem etwas einreden. Ein weiser Rat gerade in einer Zeit, in der Fake News immer mehr überhandnehmen.

Eine ganz andere Erkenntnis gewann ich nach einer Wozzeck-Generalprobe an der Mailänder Scala. Es handelte sich damals um mein Haus- und Rollendebüt, also ein sehr wichtiger Markstein in meiner Laufbahn. Aber als ich das Theater verlassend, die Galleria Vittorio Emanuele-Passage betrat und mich mit einem Mal umgeben sah von den zahlreichen Passanten, die nichts mit Oper zu tun hatten, wurde mir klar, dass es neben meinem Beruf, meiner mir am Herzen liegenden Berufung, noch etwas Wichtigeres gibt: mein eigenes, privates Leben. Nicht umsonst lautete meine Frage auf dem ersten Weihnachtsfest an der Musikhochschule nicht: »Wie wird man Sänger?«, sondern: »Kann man als Sänger auch eine Familie haben?« Denn ich erkannte damals schon die Einsamkeit des Sängerdaseins und wollte auf ein Heimatgefühl im Kreise jener, die einem nahestehen und die man liebt, nicht verzichten. Und besagter Gang durch die Galleria Vittorio Emanuele führte mir diese Sehnsucht nach Geborgenheit und Heimat abseits jeglichen Ausgestelltseins erneut nachdrücklich vor Augen.

Zum Abschluss noch ein dritter »prägender Moment«. Es war Anfang dieses Jahres, auf dem Spielplan der Bayerischen Staatsoper stand die Fledermaus und ich war als Eisenstein angesetzt. An dem Abend war ich wirklich nicht gesund und entschloss mich erst im letzten Moment, die Aufführung nicht abzusagen. Zu Beginn der Vorstellung trat der Direktor vor den Vorhang und teilte dem Publikum meine Indisposition mit. In dieser Produktion von Barrie Kosky habe ich von Anfang an auf der Bühne in einem Bett zu liegen und konnte daher hinter dem Vorhang alles akustisch mitverfolgen: Die Ansage ebenso wie die Reaktionen der Zuschauerinnen und Zuschauer. Ich hörte das betroffene Murmeln, als mitgeteilt wurde, dass ich krank wäre, aber auch den spontanen Jubel, als versichert wurde, dass ich trotzdem auftreten würde. Und dieser Jubel, dieses Gefühl des Aufgehobenseins in einem größeren Ganzen, diese emotionale Unterstützung rührte mich zu Tränen und sorgte dafür, dass ich für diese Fledermaus zusätzliche Kräfte mobilisieren konnte.