© Gregor Hohenberg
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Der prägende Moment

Keine Zugabe in einer Verdi-Oper, egal, wie sehr das Publikum auch jubelt. So lautet ein ungeschriebenes Gesetz an der Mailänder Scala. Warum diese Regel durch­brochen wurde und welche anderen Momente ihr Leben künstlerisch prägten, das durfte Oliver Láng von der Sopranistin Nadine Sierra erfahren und niederschreiben. Die US-amerikanische Sängerin, die als Teenager als Sandmännchen in Hänsel und Gretel ihr frühes Operndebüt gab und danach systematisch alle Preise, die in ihre Nähe kamen, abräumte, tritt in den führenden Zentren auf: Metropolitan Opera New York und Mailänder Scala, London und Paris, Neapel und Barcelona. Und nun auch in der Wiener Staatsoper in der Rolle der Juliette in Charles Gounods betörendem Meister­werk Roméo et Juliette.



Am Anfang standen meine Eltern, besonders meine Mutter. Sie brachten mir die Oper näher, vermittelten mir die Liebe zum Genre und unterstützten mich von Beginn an. Kein Wunder, hatte meine Mutter die Oper doch ihrerseits von ihrer Mutter, die immer Sängerin werden wollte, aber keine entsprechenden Möglichkeiten dazu hatte, vermittelt bekommen. Die Leidenschaft war also seit Generationen da und wurde weitergegeben. Und so verliebte auch ich mich mit zehn Jahren in diese Kunstform. Was anfangs übrigens nicht ganz einfach war, denn mit diesem besonderen Interesse galt ich in der Schule als »anders« und wurde von Kindern entsprechend gehänselt. Wäre da nicht die Unterstützung seitens meiner Eltern gewesen – ich hätte gar nicht angefangen, diesen Weg ernsthaft zu beschreiten. So aber nahm ich sehr früh Gesangsunterricht – und damit komme ich zu den nächsten prägenden Menschen. Denn das waren alle meine Lehrer! Vor allem aber einer: Kamal Khan, ein Stimmbildner und Coach, mit dem ich seit inzwischen 23 Jahren zusammenarbeite. Er hat mich auf jede Rolle, jedes Konzert vorbereitet und all das, was ich mache, ist buchstäblich aus der Arbeit mit ihm erwachsen.


Von den mir wichtigen Menschen komme ich zu einer wichtigen Phase meines Lebens. Nämlich zum Übergang von meiner Studienzeit am Mannes College of Music in New York zur jungen Künstlerin an der San Francisco Opera. Sagen wir es einmal so: Ich war nicht die beste Studentin, weil mir die Geduld fehlte! Ich wollte mehr tun als nur mitschreiben und studieren – und dieses Mehr, das bot mir das Young Artist Program in San Francisco. Das war der Ort, der mir zeigte, was mich in der professionellen Welt der Oper erwartet. Und das war der Ort, an dem ich als junge Solistin als Profi behandelt wurde. Das Studium einerseits und dann das Young Artist Program: das ist die Grundlage all meiner Karriere.


Als diese angelaufen war, erlebte ich Ende 20, bei meinem Debüt an der Mailänder Scala, einen außergewöhnlichen Moment. Es war einer jener Augenblicke, die mich als Künstlerin, aber die auch meine Sicht auf das Genre Oper, veränderten. Ich durfte an der Seite von Leo Nucci die Gilda in Verdis Rigoletto singen – und ich muss nicht erwähnen, wer Leo Nucci ist: ein Gott der italienischen Oper! Während der Aufführungen gaben wir vor dem Vorhang eine Zugabe, die Wiederholung von »Sì vendetta«. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich allerdings nicht, dass es an der Scala eine von Arturo Toscanini stammende eherne Regel gibt: keine Zugaben in einer Verdi-Oper! Vor allem wusste ich nicht, dass die Ausnahmen von dieser Regel sehr rar sind. Wahrscheinlich waren wir erst die Dritten, die seit Toscanini etwas wiederholen durften. Sie können sich vorstellen, wie monumental das für mich war! Diese Zustimmung, und das in dieser Oper, mit diesem Partner! Und das brachte mich zum Nachdenken: Ja, Oper ist auch eine heutige Kunstform, aber der Kern wird immer etwas bleiben, das aus der Vergangenheit stammt. Und wir können nicht in die Zukunft gehen, ohne etwas von dieser Vergangenheit mitzunehmen. Und umso länger ich über diese Erfahrung nachdenke, desto mehr verliebe ich mich in diese Gattung!


Und jetzt etwas ganz Aktuelles: Ich arbeite seit einiger Zeit mit einem Management zusammen, das versteht, wie wichtig es ist, eine Karriere nicht nur aufzubauen, sondern auch aufrechtzuerhalten, Künstlerinnen nicht nur beruflich, sondern auch persönlich zu unterstützen. Echte Opernliebhaber! Das hat die Dynamik verändert und auch die Art und Weise, wie ich jetzt meinen Weg gehen kann – und ich spüre, wie ich aufblühe. Und das, obwohl ich technisch gesehen seit meinem 14 . Lebensjahr in diesem Geschäft bin! Jedenfalls haben sich Türen geöffnet, die ich verschlossen wähnte und die zu durchschreiten ich keinen Mut oder kein Selbstvertrauen hatte. Diese Unterstützung ist mir wichtig – um meine Karriere weiterzuführen und zu erweitern!

Nadine Sierra