Der Meister des Belcanto

„Sein Gespür für Stil, die subtilen Variationen in Tempi und Dynamik innerhalb eines Satzes, die Fähigkeit, die Zeit für einen Moment stehen zu lassen oder einen Höhepunkt zu setzen, ohne die Besetzung untergehen zu lassen, machten diesen Abend zu einer Belcanto-Erfahrung.“ Opera Critic über eine Pidò-Aufführung.

Wenn ein Dirigent für seine historisch fundierte, geradezu wissenschaftlich genaue Arbeit bekannt ist, dann ist es Evelino Pidò. Tiefschürfende musikalische Quellenstudien gehören für ihn einfach dazu, ebenso wie er das gesamte verfügbare Material rund um eine Oper studiert, analysiert und auswertet. So ist ein Gespräch mit dem Maestro stets so etwas wie ein spannender Ausflug in die Geschichte und in das Herz einzelner Musikstücke: einfach so nur drauflos spielen, einfach so nur ungefähr musizieren, das kommt für ihn nicht in Frage. Ebenso verhält es sich mit dem Probieren. Pidò schätzt die Probenarbeit besonders und die ihn umgebenden Musikerinnen und Musiker, egal ob Instrumentalisten oder Sänger, kommen ins Schwärmen, wenn sie von seiner Arbeit sprechen. Auch hier gilt: Vorbereitung muss sein, und ohne solide Vorbereitung möchte er nicht vors Publikum treten. „Ich halte ausreichend Proben für enorm wichtig. Ich lasse mich nicht aufs Improvisieren ein“, meinte er vor Kurzem in einem Krone-Interview. Und gerade auch darum, weil man dank ihm so gut vorbereitet ist, ist er auch der „Dirigent, dem Diven vertrauen“, wie im Standard zu lesen war – und nicht nur Diven. Sondern auch Intendanten quer über den Globus schätzen die musikalische Professionalität, die Pidò an den Tag legt: und dementsprechend ist er ein gerne gesehener Gast unter anderem an der New Yorker Metropolitan Opera, an der Mailänder Scala, am Royal Opera House Covent Garden, am Teatro Real in Madrid, an der Pariser Oper, am Teatro Colón in Buenos Aires. An der Wiener Staatsoper, an der er 2011 debütierte, kennt man ihn in jedem Winkel des Hauses, zwischen Notenarchiv und Orchestergraben und Probensälen: Pidò ist allgegenwärtig. Umfassend ist sein Wiener Staatsopern-Repertoire: Anna Bolena (Premiere), La Fille du régiment, La cenerentola, L’elisir d’amore, I puritani, Don Pasquale, La traviata, Adriana Lecouvreur (Premiere) und zuletzt Tosca, wie auch etliche andere Opern, leitete er hier.

„Seit dreihundert Jahren“, erzählt Pidò, „wies meine Familie väterlicherseits Maler auf und ich wurde entsprechend beeinflusst, auch wenn ich kein großer Maler bin“, lacht er. „Doch habe ich mir den Blickwinkel des Malers erhalten – sind Malerei und Musik doch verwandte Künste!“ Das künstlerische Klima, in das er hineingeboren wurde, trug bald Früchte. „Alle in meiner Familie spielten ein Instrument, wenn auch nicht professionell“, berichtet er. Und so lag es nahe, dass er schon im zarten Alter von vier Jahren mit der entsprechenden Ausbildung begann. Sein Weg führte ihn nicht nur über eine Orchestertätigkeit als Fagottist an die Mailänder Scala, sondern auch nach Wien, wo er bei Karl Österreicher an der Musikhochschule lernte; ebenso studierte er in Turin, seiner Heimatstadt, bevor er Assistent von Claudio Abbado wurde. Seine internationale Karriere begann in Melbourne mit Puccinis Madama Butterfly und führte ihn bald um die Welt. Wie wenige andere gilt er als Spezialist für das italienische Fach, besonders auch für den Belcanto. Wenn er über die Lucia di Lammermoor spricht, gerät er ins Schwärmen. „Wir wissen, dass diese Oper, 1835 Neapel war: ein großartiger Erfolg vom ersten Augenblick an – im Gegensatz zu anderen heute bekannten Opern seiner Kollegen. Denken wir nur an Rossini, dessen Barbiere di Siviglia ja bei ihrer Uraufführung durchgefallen ist. Für mich ist Lucia di Lammermoor das Meisterwerk in Donizettis Schaffen. Abgesehen von den wunderbaren Melodien, der spannenden Harmonik ist beeindruckend, wie gekonnt er auf die die drei Protagonisten der Oper zu fokussieren versteht.“ Drei? „ Ja, man darf neben Edgardo und Lucia nicht auf Enrico vergessen, der unheimlich wichtig ist.“ Und – so beschreibt Pidò – es gibt sogar einen vierten Protagonisten: das Orchester, das nicht nur Begleitfunktion hat, sondern eine echte Hauptrolle ist.

Pidò, der die Aufführungstradition der Oper „wirklich sehr gut“ kennt, greift bei dieser Produktion auf eine kritische Notenausgabe zurück. „Es gibt viele Unterschiede“, meint er. „Auch im Orchester, unter anderem in der Phrasierung: Legati, Staccati, da wurde einiges richtig gestellt. Mit dieser Fassung, denke ich, sind wir den Wünschen des Komponisten weit näher als mit bisherigen Ausgaben.“ Wobei Pidò kein Hardliner ist, der ausschließlich auf einen sakrosankten Notentext setzt, sondern immer nach Zusammenhängen und den Umständen der historischen Aufführungssituation fragt. So werden auch diesmal einige Musiknummern transponiert, die Donizetti nur aufgrund spezieller Sängerkonstellationen auf eine bestimmte Tonhöhe setzte. Und im Sinne dieses „Widmens“ für bestimmte Sänger in bestimmten Aufführungen hat Pidò die Kadenz in der Wahnsinnsarie der Lucia neu verfasst: speziell auf die Stimme von Olga Peretyatko, der Premieren-Lucia zugeschnitten. Überhaupt, die Wahnsinnsarie: Diese liegt Pidò, und das untereicht er mit Nachdruck, naheliegender Weise besonders am Herzen. Die Frage: Flöte oder Glasharmonika beantwortet er mit einem klaren Votum für die Glasharmonika. Donizetti schrieb die Arie ja ursprünglich für Sopran und Glasharmonika, doch der berühmte Intendant des Teatro San Carlo in Neapel, Domenico Barbaja, untersagte ihm aufgrund der hohen finanziellen Forderungen des Harmonika-Spielers den Einsatz dieses Instruments. „So wurde es die Flöte“, lacht Pidò. „Doch die Glasharmonika mit ihrem irrealen Klang drückt den Zustand des Wahnsinns der Lucia viel besser aus! Eine Flöte kann das nicht!“

Vom Libretto der Oper, das Salvadore Cammarano verfasst hatte, ist Pidò hingerissen: „Cammarano gelang es, nicht nur den Roman von Sir Walter Scott bravourös auf ein Libretto zu kürzen und die richtigen Schwerpunkte zu finden, sondern er schaffte es auch, mit wenigen Worten den Charakter der Figuren zu entwerfen. Ein großes literarisches Talent – und ein idealer Partner für Donizetti.“

Oliver Láng


Lucia di Lammermoor
Premiere: 9. Februar 2019
Reprisen: 12., 15., 18., 21. Februar 2019
Koproduktion mit der Philadelphia Opera

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