Hila Fahima in »Arabella«
Camilla Nylund, Evelyn Herlitzius und Nina Stemme in »Die Frau ohne Schatten«

Der große Verwandler

Am 25. November 2020 ist Die Frau ohne Schatten und am 26. November Arabella um 19.00 Uhr hier in unserem Stream zu sehen. 

Im Theater ist Verwandlung, geschieht Verwandlung, Theater lebt durch Verwandlung. Szenenwechsel, Vertauschung der Realitäten (hie Wirklichkeit, hie Eintauchen in die Welt der Fiktion), Wechsel des Darstellers von der Privatperson in jene des darzustellenden Charakters, emotionale Aufwühlung der diesbezüglich empfänglichen Zuschauer – das alles sind Schlagwörter, Aspekte des metamorphischen Instituts Theater. Wer ein solches als Besucher einer Aufführung betritt, ist sich dieses Umstands bewusst und lässt sich verwandeln, wer das Theater durch den Bühneneingang betritt, ist sich dieses Umstands bewusst und führt Verwandlungen herbei. Wer schöpferisch für das Theater wirkt, ist sich dieses Umstands bewusst und kreiert Verwandlungen. Richard Strauss, der große Musiktheaterpraktiker und noch größere Musikschöpfer, erhob die Verwandlung sogar zum Leitmotiv in seinem Œuvre. Und so schrieb er, nicht gerade zufällig, gegen Ende des Lebens und als Beginn eines letzten neuen musikalischen Weges seine Metamorphosen.

Durchstöbert man die Opern von Richard Strauss, fällt einem erst auf, wie häufig er Verwandlung als Thema wählte. Zum Teil in Kombination mit dem Lebensraum Theater und dessen Umfeld. Ariadne auf Naxos mit seinem Theater im Theater dürfte diesbezüglich den absoluten Höhepunkt darstellen. Eine vielstimmige Fuge, in der das Thema Verwandlung immer neu erklingt, zum Teil alleine, zum Teil parallel, zum Teil enggeführt: Die Primadonna verwandelt sich in Ariadne, Ariadne wird zu einer Verwandelten, die Karikatur eines Tenors wird zum idealen Abbild eines Gottes, die Gelegenheitskomödiantin Zerbinetta zur Muse, der Komponist des Vorspiels erfährt überhaupt die wohl grundlegendste Metamorphose, sein Werk dergleichen gleich mehrere, die emphatischen Aufschwünge in der Strauss’schen Partitur unterstreichen nicht nur die wichtigsten, sie bewirken sie auch im Zuhörer und Zerbinetta besingt sie in Hinblick auf die Liebe ziemlich eindrücklich.

Eine ganz besondere Verwandlung brachten Strauss und Hofmannsthal im Vorgängerwerk von Ariadne, im Rosenkavalier, zur Sprache. Eine, die alle betrifft und die wohl die meisten zum Nachdenken anregt, weil sie stetig, aber unmerklich vor sich geht, kein konkreter Zeitpunkt auszumachen ist und sie dennoch nicht zu leugnen ist: das Altern. „Wie kann denn das geschehn? Wie macht denn das der liebe Gott? Wo ich doch immer die gleiche bin“, singt die Marschallin im ersten Akt. Wie konträr diese Verwandlung doch zu jener des Komponisten in der Ariadne ist. Diese ist nach außen gut erkennbar, wird aber von der betreffenden Person nicht erfühlt. Jene hinterlässt kaum sichtbare optische Spuren, verändert aber das gesamte Wesen des jungen Mannes, sodass er sich vielleicht sogar interessiert in einem Spiegel betrachten wird, ob die seelische Umformung nicht doch auch eine Änderung der eigenen Züge mit sich gebracht hat.

Die offensichtlichste Metamorphose in Strauss Opernschaffen findet sich wohl in der Daphne, da hier eine tatsächliche, physische Transformation eines Menschen in einen anderen Wesenszustand geschieht – in einen (reinen) Baum. Und zwar bleibend. Vor allem geschieht diese Verwandlung mit Zustimmung, ja auf ausdrücklichen Wunsch der Titelfigur, anders also als in der Oper Ariadne, in der die dortige Titelfigur zwar die Umwandlung durch den Tod anstrebt, aber letztendlich eine ganz andere, sehr lebendige, Veränderung erfährt (und damit auch sehr glücklich ist). Dass Strauss diese daphnesche Fluchtumwandlung gegen Ende seines Leben schuf, mag zwar auf den ersten Blick zufällig sein, überraschend ist sie für einen betagten Künstler jedoch nicht, denn die Wandlungsfähigkeit der Liebe, wie sie von Zerbinetta besungen wird, ist eher jüngeren Komponisten – wie eben jenem des Ariadne-Vorspiels vorbehalten.

Neben Daphne und Ariadne bediente sich Strauss, in Hinblick auf die Opernbühne, noch zweimal der griechischen Mythologie – und beide Male sind Umwandlungen beziehungsweise Verwandlungen grundlegende handlungsbestimmende Faktoren: In der Liebe der Danae erscheint der schlussendlich erfolglose Jupiter einmal als Goldregen, dann in der Gestalt des Midas, dann wieder als Goldregen und zu guter Letzt als alter Mann; und auch Danae muss zwischenzeitlich, ähnlich wie die spätere Jill im James-Bond- Film Goldfinger, zur goldenen Statue erstarren. In Die ägyptische Helena wiederum führen Zauber- respektive Erinnerungstränke (die Situation erinnert entfernt an Hagens Zaubertrank in Wagners Götterdämmerung) bei Menelas innere Verwandlungen herbei, um die Geschichte einem Happy End zuzuführen.

Von der Mythologie ist es kein großer Schritt zum Märchen, konkret zur Frau ohne Schatten, wo gleich zwei Metamorphosen zur Disposition stehen. Zwei, die zusammen zur selben Zeit nicht zur Ausführung gelangen können; die Existenz der einen muss zwangsläufig die andere letztlich obsolet machen und umgekehrt – eine aber muss stattfinden: Entweder jene der Kaiserin vom Geistwesen zum Menschendasein (wie es dann auch sein wird) oder jene des Kaisers vom lebenden Menschen zum versteinerten leblosen Ding. Selbstverständlich sind beide Möglichkeiten vielfach und auf jeden Fall tiefenpsychologisch deutbar.

Viel einfacher und eindeutiger sieht es hingegen in der Arabella aus: Ein Mädchen wird als Bub in die Gesellschaft eingeführt und darf sich just durch ihre erste Liebesnacht auch offiziell wieder und ohne jede metaphysische Dimension zur jungen Frau „zurückverwandeln“.

Um einige Grade symbolischer geht es schlussendlich in Capriccio zu: Aus den beinahe schon allegorischen Gestalten Olivier und Flamand, und vor allem aus deren Zuneigung zur Gräfin, wird – auf einer anderen Ebene – eine neue Oper: Personen verwandeln sich aus Liebe in eine rein ideelle Sache, in ein Kunstwerk. Eine schönere Verneigung hätte Strauss vor der Gattung Oper kaum machen können. Und so erweist Strauss wie schon in Ariadne auch in Capriccio dem „Weltenrad der Bühne“, der gesamten Welt des Theaters, dieser großen Verwandlerin, seine Reverenz.

Andreas Láng