DER GESTALTUNGSWILLE DES JUNGEN WAGNER
I. Die Frage der Fassungen…
Plant man eine Neuproduktion des Fliegenden Holländers, muss zunächst eine Entscheidung über die aufzuführende Fassung gefällt werden und das ist keinesfalls so einfach, wie manche meinen. Schon die Urfassung war nicht die Version, die Richard Wagner zur Uraufführung brachte. Unmittelbar danach wurde vor allem die Instrumentation entscheidend verändert und man kann gar nicht genau sagen, wie viele Schichten solcher Umarbeitungen es danach noch gab. Seit 1860 stellt sich zu den Instrumentationsfragen und der Frage, ob die Akte einzeln oder durchkomponiert gespielt werden, noch die Frage nach dem sogenannten »Erlösungsschluss«, der von der Instrumentation her aus der Zeit nach Abschluss der Tristan-Komposition stammt und gleichsam ans Ende der Ouvertüre und des Schlusses »drangeklebt« wurde. Dazu kommt, dass die Ballade für die Uraufführung der Sängerin der Senta zu liebe einen Ton heruntergesetzt wurde – das ist zwar einfacher zu singen, klingt aber weniger attraktiv. Zu alledem kommt dann noch eine Fassung, die vieles zusammenfügt und gar nicht von Richard Wagner stammt, aber bis heute die gängigste ist, nämlich die des ehemaligen Dirigenten und Direktors der Wiener Staatsoper Felix von Weingartner, sozusagen ein »Best-of« bzw. eine »Fassung letzter Hand« (ähnlich wie Robert Haas’ Fassungen diverser Bruckner-Symphonien). Meine Position ist, seitdem ich das Werk dirigiere, eindeutig: Außer mir begegnet eines Tages noch eine Regisseurin oder ein Regisseur, die oder der mir einen sehr plausiblen Grund für diese Variante anbietet, lehne ich die ergänzte Fassung von 1860 ab – aus musikalischen, stilistischen, aber auch dramaturgischen Gründen. Ich bin sehr froh, dass hier an der Wiener Staatsoper die durchkomponierte Fassung gespielt wird ohne diese Ergänzung am Ende von Ouvertüre und Finale.
Genau genommen gilt ja der Ausspruch Richard Wagners, »er sei der Welt noch den Tannhäuser schuldig«, auch für den Fliegenden Holländer. Schließlich hat der Komponist noch am Ende seines Lebens über eine tiefergehende Umarbeitung, ja eine richtiggehende »Neukomposition« der Holländer-Partitur nachgedacht. Kein Wunder. Zum einen hat die 1860 erfolgte Einfügung des besagten Erlösungsschlusses in die Partitur von 1842 etwas zutiefst Anachronistisches – der spätere von Tristan und Isolde eingefärbte Musikstil trifft unvermutet auf eine viel frühere Schaffensphase, ohne dass sich dies wie im Tannhäuser dramaturgisch begründen und auch musikalisch gut umsetzen lässt.
Anders beim Tannhäuser, wo ich im Gegensatz zum Holländer die spätest mögliche Fassung (mit Ausnahme des unseligen Striches im 2. Akt) bevorzuge. Hier hat sich Richard Wagner in mehreren Dokumenten eindeutig von der ersten, sogenannten »Dresdner Fassung« unmissverständlich distanziert und sowohl dramaturgisch, aber auch musikalisch ist die heute als »Wiener Fassung« bekannte Version nach meinem Verständnis, wenn auch nicht ideal, so doch der früheren Version deutlich überlegen. Im Fliegenden Holländer dagegen bleibt für mich die Erg.nzung von 1860 nicht nur musikalisch, sondern auch aus dramaturgischer Sicht letztlich höchst fragwürdig. Wagner wollte noch Abhilfe schaffen, kam aber nicht mehr dazu. Man findet in der Literatur unendlich viele Abhandlungen über die Gründe, die ihn dazu bewogen haben, diesen Erl.sungsschluss nachzuliefern. All das überzeugt nicht wirklich und ich vermute sehr stark, dass auch Wagner selbst am Ende – nicht nur deswegen – seine Zweifel hatte. Für mich bleibt beim Fliegenden Holländer das ursprüngliche, durchkomponierte Konzept mit den erbarmungslosen Schlüssen überzeugender, allerdings unter Berücksichtigung der späteren Instrumentation. Es ist ganz offensichtlich aus dem ganzen Bearbeitungsprozess ersichtlich, dass er die »Blechlastigkeit« der Urversion immer durchsichtiger und auch sängerfreundlicher gestalten wollte.
II. Traditionelle äußere Form
Der fliegende Holländer, Wagners erste gro.e Oper des sogenannten Bayreuther Kanons, lässt noch deutlich das Schema der italienischen Nummernoper erkennen. Manche Abschnitte sind von Wagner sogar explizit entsprechend übertitelt: Man denke nur an die »Ballade« der Senta, die in der Tradition obligaten »Introduktionen« am jeweiligen Aktbeginn, die Auftritts-»Arie« des Holländers, dann finden wir die Bass-»Arie« Dalands im zweiten Akt, eine »Kavatine« Eriks im dritten Akt, mehrere »Duette«, ein »Terzett« und natürlich auch eine klassische »Ouvertüre« im Potpourristil. Lauter abgeschlossene Nummern, die zum Teil auch losgelöst vom Gesamten ins Konzertrepertoire Eingang gefunden haben. Von einer tatsächlich durchkomponierten Struktur, wie etwa im Rheingold, sind wir im Fliegenden Holländer noch weit entfernt, wenn auch Wagner die einzelnen Passagen schon durch Scharniere miteinander verbindet. Auch der Binnenaufbau folgt im Prinzip ebenfalls noch sehr deutlich dem alten Schema. So treffen wir zum Beispiel regelmäßig auf die Strophenform: In der Steuermann-Arie am Beginn des ersten Aktes, in der Senta-Ballade, im Spinnchor am Beginn des zweiten Aktes, im Seemannschor am Beginn des dritten Aktes. Aber auch der Aufbau der einzelnen Arien weist zum Teil alle gängigen traditionellen formalen Ingredienzien auf. Man sehe sich nur den großen Auftrittsmonolog des Holländers an: Es beginnt mit dem langsamen, rezitativischen Abschnitt »Die Frist ist um» (Wagner notiert sogar alle zwei Takte das Wort »Rezitativ«), diesem folgt der rasche Teil »Wie oft in Meeres tiefsten Schlund«, der sich mit. »Dich frage ich« als Übergang beruhigt, ehe das Ganze mit einer Art Cabaletta (»Nur eine Hoffnung soll mir bleiben«) schließt. Auch die mehrteiligen Duette mit den Stretta-artigen Gebilden haben aus formaler Sicht noch nichts Revolution.res an sich. Auffallend ist zudem die durchgehende Verwendung italienischer Tempobezeichnungen wie »Allegro con brio«, »Un poco più mosso«, »Feroce«, »Molto passionato« usw. Auch gibt es im Holländer noch durchgehend (meiner Meinung nach an manchen Stellen gefährliche) Metronomangaben, eine Praxis, die Wagner mitten in der Arbeit am Tannhäuser abgebrochen hat. Mit gutem Grund, wie ich, aus der Praxis heraus, meine!
III. Orchester
Von der Besetzung her ist das Orchester, im Gegensatz zu den späteren Werken Wagners, auch eher noch traditionell besetzt: Von Wagner-Tuben ist natürlich noch keine Spur, die Bassklarinette fehlt ebenso und ohne den Erlösungsschluss gibt es keine Harfe; lediglich die Windmaschine gehörte nicht zum Standardrepertoire. Was aber auffällt, ist der besondere, neuartige Einsatz mancher Instrumente beziehungsweise deren Funktion. Wenn der kundige Orchestermanager den Fliegenden Holländer am Spielplan entdeckt, weiß er: Das 3. Horn ist fast durchgehend im Einsatz, fast wie in einem Horn-Konzert, die 2. Trompete hat vor der Auftrittsarie des Holländers in einer unangenehm und unüblich tiefen Lage das schon aus der Ouvertüre bekannte Holländer-Thema zu spielen, um eine ganz spezielle angsteinflößende, gruselige Klangfarbe zu erzeugen. Vorbildwirkung für die Zukunft (etwa für Verdi in seinem Don Carlo) hatte sicherlich auch die vierstimmige Horngruppe in der Traumerzählung Eriks im zweiten Akt. Auch die enge dramaturgische Verbindung der Englischhorn/Oboen-Familie mit Senta war in der hier erfolgenden Form noch durchaus Neuland für die damalige Zeit. Besonders augenfällig wird dies in dem Moment, in dem Erik an Senta die Frage stellt: » … Was du mir einst gelobet, ewige Treue, Senta leugnest du?« Anstelle von Senta antwortet die Solo-Oboe, um damit gewissermaßen die Absage an Erik noch deutlicher zu vergegenwärtigen. Das entspricht wohl jener Situation, in der jemand seine Partnerin oder seinen Partner fragt, ob sie ihn oder er sie noch liebt und er gar keine Antwort erhält – so etwas ist fast schlimmer als ein ausformuliertes »Nein«. Aber schon der allererste Einsatz Sentas in der Oper, ihr (gar nicht notiertes!) Summen knapp vor der Ballade, wird von der Oboe begleitet. (Hier besteht immer die Gefahr, dass der Dirigent ein zu langsames Tempo wählt. Es steht ausdrücklich più lento, nicht lento oder molto più lento, wie beim Wiederholen des Motivs durch den A-cappella-Damenchor am Ende der Ballade. Beim Summen ist man ja grundsätzlich rascher unterwegs, als wenn man zur Melodie noch einen Text singt.) Und in der Ouvertüre ist es das Englischhorn, welches das Senta-Motiv zum allerersten Mal intoniert.
IV. Einflüsse
Da wir alle die Musikgeschichte rückblickend betrachten und analysieren, besteht natürlich die große Gefahr, dass man Werke aus dem Wissen um die weitere Entwicklung heraus interpretiert, was natürlich der verkehrte Weg ist. Um beim Holländer zu bleiben: Der Dirigent, der dieses Stück von Tristan und Isolde oder gar von Parsifal herkommend realisiert, kann nur fehlgehen. Der Holländer ist ein Werk des jungen Wagner (den Stoff entdeckte er als 25-Jähriger, die Urkomposition schloss er mit 28 ab, bei der Uraufführung war er noch nicht 30 – Verdi war ungefähr genauso alt, als er den Nabucco zur Uraufführung brachte), dessen musikalische Vorbilder und Inspirationsquellen – Beethovens Fidelio, Webers Freischütz und Lortzings Zar und Zimmermann – unübersehbar ihre Spuren in der Partitur hinterlassen haben. Das muss hörbar gemacht werden: Das immer wieder auftretende leichte, spritzige, humorvolle, fast schon Operettenhafte in der Figur Dalands und das ihn begleitende kammermusikalisch ausgedünnte Orchester beispielsweise stehen in direkter Nachfolge Lortzings; das »Mit Gewitter und Sturm« des Steuermanns wiederum kann Weber nicht verleugnen. Ich gehe sogar noch weiter: Selbst der Einfluss eines Franz Schubert ist bei Eriks »Mein Herz voll Treue bis zum Sterben« und bei dessen Kavatine augenscheinlich. Durchaus auch dramaturgisch begründbar: Erik verkörpert den biedermeierlichen Lebensentwurf, eine für Senta bereits überholte Vorstellung vom Lebensglück mit einem Partner. Dieser auch musikalisch veranschaulichten Vergangenheit steht mit dem Holl.nder eine ganz anders geartete Zukunft gegenüber.
V. Neue Wege
Auch wenn Wagner im Holländer in vielem noch der Tradition verpflichtet blieb, sind gerade in diesem Werk bereits neue Impulse und ein unabhängiger Gestaltungswille deutlich erkennbar. Das beginnt natürlich zunächst mit dem Einsatz der (von Wagner nie so bezeichneten) Leitmotive, die von der Ouvertüre an als feste musikalische Bausteine erkennbar sind und zum Teil subkutane Kommentare zum Geschehen liefern. Es geht weiter mit den immer wieder auftretenden, fast proveristischen Schilderungen der Vorgänge. Der erste Auftritt des Holländers kann diesbezüglich als Musterbeispiel dienen. Die formale Anlage ist, wie bereits, gesagt, im Wesentlichen traditionell. Aber wie Wagner auf musikalische Weise ganz detailliert die Geräusche des Herannahens und Ankerwerfens des Holländerschiffes beschreibt, das erschöpfte Taumeln der Titelfigur, sein langsames Wiedererwachen nach der langen Seefahrt, das war etwas in dieser Weise vollkommen Neues. Aber auch die erste Begegnung Sentas und des Holländers gehört hierher: Zunächst der markerschütternde Schrei Sentas, ausgelöst durch den Schock, der mit dem plötzlichen, leibhaftigen Auftauchen der herbeigesehnten, mystischen Figur einhergeht, dann das durch unbegleitete Paukenschläge evozierte Gefühl einer beklemmenden Stille, auf die eine durchgehende, den Herzschlag imitierende Begleitung der tiefen Streicher folgt –, das alles nimmt schon die spätere Filmmusik vorweg. Und wie wunderbar feinfühlig zeichnet Wagner etwas später das Teenagerhafte, Schüchtern-Scheue des jungen Mädchens, als es zum ersten Mal dem Holländer antwortet: Wieder ist es die Oboe, die sich zuerst zu Wort meldet, ehe Senta verhalten, im mezza voce ihr »Versank ich jetzt« beginnt. Ungewöhnlich auch der weitere Verlauf des Duetts, der mich an einen verkehrten Pas de deux erinnert: Für Wagner-Opern sonderbar früh singen Senta und der Holländer zunächst eine längere Strecke gemeinsam, ehe sie danach abwechselnd solistisch zu Wort kommen, um sich dann erst am Schluss wieder vokal zu vereinen. Überraschend ist natürlich ganz grundsätzlich das Gefüge innerhalb des Beziehungsdreiecks Senta-Erik-Holländer. Das richtige Paar wird nicht von Sopran und Tenor gebildet, sondern von Sopran und Bariton.
VI. Antike versus Sagenwelt
Der am Operngeschehen sehr interessierte Napoleon nahm im nachrevolutionären Frankreich großen Einfluss auf die Komponisten. Genau genommen wollte er keinerlei zeitgenössische Kommentare zur politischen Entwicklung, sondern ein bewusstes Wegschieben und Vergessen all der blutigen und chaotischen Vorgänge, die nach dem Sturm auf die Bastille das Land heimgesucht hatten, und so propagierte er ein direktes Anknüpfen an die Antike insbesondere an das antike Rom, um auch auf dem Gebiet der Musik eine Kontinuität zwischen dem ehemaligen Imperium und seinem neuen Kaiserreich aufzuzeigen. Gaspare Spontinis Vestalin beispielsweise muss in diesem Zusammenhang verstanden werden. Als Wagner nach Paris kam, war Napoleon natürlich schon lange gestürzt und verstorben, aber die Idee einer Herleitung aus der Antike war noch lebendig. Wagners Hinwendung zur deutschen respektive germanischen Sagenwelt traf da auf ein fruchtbares Feld und nicht durch Zufall kaufte auch ein französischer Komponist, Pierre-Louis Dietsch, den ersten Entwurf Wagners, um daraus seine eigene, damaligen französischen Ohren gefälligere Version zu schaffen, die aber im direkten Vergleich bald in Vergessenheit geraten sollte.
Für die Gestaltung des Fliegenden Holländers war aber der Aufenthalt in Paris hörbar befruchtend. Nicht nur die schon erwähnten deutschen Vorbilder oder der auch schon genannte Spontini, sondern auch der von Wagner geschätzte Hálevy und der später von ihm so diffamierte Meyerbeer stehen deutlich Pate an der Wiege von Richard Wagners erstem wirklich bedeutenden Werk.