Der gelebte Traum
Mit fünf Jahren begann sie ihre Musikausbildung, studierte später in Graz und Leipzig, war Meisterkurs-Schülerin von Riccardo Muti und Bernard Haitink und später erste Kapellmeisterin am Stadttheater Klagenfurt: Giedrė Šlekytė. Inzwischen kennt sie den Musikverein, die Bayerische Staatsoper, die Zürcher Oper, die Staatskapelle & Staatsoper Berlin, Semperoper, Wiener Symphoniker, Münchner Philharmoniker und viele andere aus der Dirigentinnen-Perspektive und gehört zu den meistgenannten Namen, wenn es um Dirigentinnen ihrer Generation geht. Anlässlich ihres Debüts mit Puccinis La bohème sprach sie mit Oliver Láng über den Erwartungsdruck in der Dirigierpraxis, das Gärtnern als Stressausgleich und den Unterschied zwischen dem Hören und Leiten von Opern.
In der aktuellen Spielzeit debütieren Sie an der Wiener Staatsoper und am Royal Opera House in London, in Ihrem Kalender prangen klingende Institutionennamen. Sind Sie mitunter von Ihrer eigenen Karriere beeindruckt?
Wenn ich meine Spielzeit überblicke, staune ich tatsächlich und denke mir manchmal: »Gar nicht schlecht!« (lacht) Noch vor fünf Jahren hätte ich mir das so nicht vorstellen können, wobei die Reise natürlich vor Langem angefangen hat: Meine ersten professionellen Auftritte als Dirigentin hatte ich um 2011 herum, seit 2014 bin ich wirklich unabhängig und lebe von dem Beruf. Ich weiß aber auch, dass ich mit all dem ein Riesenglück habe! In schwierigen Momenten sage ich mir daher immer wieder: »Hey, genieß es, es ist dein Traum, den du lebst!«
Wie sehen denn die schwierigen Momente des Dirigentinnenlebens aus?
Der Beruf bringt, wie jede leitende Funktion, mit sich, dass man auch viel Kritik ausgesetzt ist. Die Erwartungshaltungen sind sehr hoch, so hoch, dass man sie praktisch nicht erfüllen kann. Ich versuche das mit Humor zu nehmen, und es gibt ohnehin keine Dirigentin und keinen Dirigenten, der von allen nur gelobt wird.
Was wird alles erwartet? Leiten und organisieren, sozial-sein und sicher?
… dass man alle inspiriert, musikalisch überzeugend ist, gut probt, alles hört. Streng ist, aber auch nett. Intensiv arbeitet, aber im Probenprozess auch entspannen kann. Viel vorgibt, aber auch Freiheiten lässt. Eigene Vorstellungen vermittelt, aber auch die Ideen der anderen wahrnimmt. Immer perfekt vorbereitet ist, aber ein breites Repertoire hat. Dass man den Kontext kennt, belesen und kommunikativ ist, viele Sprachen spricht. Ich weiß gar nicht, wo ich aufhören soll…
Haben Sie das Gefühl, dass das immer so war? Oder ist das ein Zeichen der heutigen Zeit? Hat man all das auch von einem Karajan verlangt? Etwa, dass er kommunikativ sein soll?
Ich kann das nicht beurteilen, weil ich sein Leben nur aus Erzählungen kenne. Aber: Auch er wurde nicht als Legende geboren. Wenn ich aber lese, wie viel Gustav Mahler in Wien und anderen Städten gearbeitet hat, war das damals schon kein leichter Job.
Mahler war beseelt und getrieben von einer Vision. Wie verträgt sich so etwas mit der heute so oft eingeforderten Work-Life-Balance?
Ich lebe seit einigen Jahren in Klagenfurt, da ist Mahlers Komponierhäuschen in Maiernigg nicht weit entfernt. Wir wissen, dass er dort im Sommer vormittags intensiv komponiert hat, danach war er in der Natur unterwegs und ist viel geschwommen. Das war ein langsameres Tempo, ganz klar. Wobei es außerhalb des Sommers in Wien natürlich ganz anders, nämlich viel intensiver, zugegangen ist. Ich kann nicht sagen, ob das eine gute Work-Life-Balance war, eher Work-Work. Was das Heute betrifft: Unter meinen Kolleginnen und Kollegen gibt es alles: Extreme Workaholics und andere, die auch außerhalb der Arbeit ihre Erfüllung und ihren Spaß finden. Daniel Harding etwa: Neben der Musik hat er eine zweite Leidenschaft, nämlich das Fliegen. Und diese Begeisterung lebt er ebenso aus wie jene zur Musik. Mein berufliches Leben ist zweifellos sehr intensiv, so intensiv, dass ich mir manchmal mehr Ausgeglichenheit wünsche. Dann versuche ich, mit Gartenarbeit oder Yoga eine Balance herzustellen.
Inmitten der Anforderungen, die für Außenstehende vielleicht wie ein Korsett wirken: Wo bleibt der Spaß? Besteht er darin, dass das, was Sie machen, dann doch einfach erfüllend ist? Oder ist es wie so oft im Leben: Wirklich vollkommen erfüllend ist es nur jeden dritten Tag, aber dieses Glück ist es dann wert?
Es wäre eine Lüge zu sagen, dass wirklich jeder Tag gleich gut ist. Ich liebe die Musik aber seit Langem einfach sehr – und mir war irgendwann klar: ohne sie geht es nicht. Und in so einem Fall einer großen Leidenschaft nimmt man vieles in Kauf. Ich entdecke immer wieder neu, wie umfassend meine Begeisterung für das alles ist, besonders auch für die Oper. Es ist einfach meine Welt und mein Platz. Anders will ich es nicht haben.
Ist es als freundliche Person notwendig, sich im Sinne der besonderen Anforderungen an eine Dirigentin eine Maske der Strenge aufzusetzen, um Autorität zu zeigen? Weil es vielleicht so erwartet wird und sonst die Probendisziplin dahin wäre?
Vielleicht müsste man das. Allerdings beherrsche ich dieses Verstellen nicht sehr gut. Viele sagten mir früher, dass es mit mir und dem Beruf so nicht funktionieren würde, weil ich eben nicht zu freundlich sein darf. Mir ist aber die Treue zu mir selbst dermaßen wichtig, dass ich es selbst mit ganz viel Training nicht schaffen würde, mich ausreichend zu verstellen, nur um bestimmten Erwartungen zu entsprechen. Und wenn ich das täte, dann wäre so wenig von mir selbst übrig, dass das Ganze ohnedies keinen Sinn hätte. Ein ganzes Leben in einer Verstellung zu leben ist ja auch Quatsch.
Nun haben Sie als Dirigentin den ganzen Tag Musik um die Ohren. Wir leben zudem in einer Gesellschaft, in der viele mit Ohrstöpseln versehen sich ihren eigenen Soundtrack schaffen. Wie gehen Sie mit einer solchen Dauermusik um? Wenn Sie am Abend dirigieren, brauchen Sie da zuvor eine Klangpause?
Wenn ich viel arbeite, höre ich zusätzlich kaum Musik, auch nicht auf der Straße. Es ist ja auch schön, etwas Stille zu genießen. Und Zeiten der Ruhe sind mir wichtig! Es hilft mir nämlich sehr, ein bisschen abgeschieden zu studieren und zu lesen. Wenn mich dabei Gedanken von Künstlern, die zum Beispiel vor 200 Jahren formuliert wurden, unmittelbar ansprechen, ist das ungemein verbindend! So ein: »Ja, genau das, was du schreibst, fühle ich auch gerade!« Was für ein Geschenk, das heute lesen zu können! Diese Momente der scheinbaren Einsamkeit, die ich mit Büchern und Noten verbringe, sind die wichtigsten und produktivsten!
Wie wirkt sich eine solche Anreicherung mit Literatur und mit Quellenmaterial aus? Wenn Sie Briefe von Puccini lesen – hat das, direkt oder indirekt, einen Einfluss auf Sie als Interpretin?
Jedes Projekt macht mich zu einem bisschen anderen Menschen. Nicht komplett. Aber es kommt immer ein kleiner Teil dazu. Prinzipiell hilft ein breites Wissen sehr, ob das nun Bücher sind oder Manuskripte. Man gewinnt immer etwas. Und es hat etwas Inspirierendes! Wenn nicht direkt bei einer Aufführung, dann doch vielleicht in einer anderen Lebenssituation.
An der Wiener Staatsoper debütieren Sie mit Puccinis La bohème. Das ist eine der Top-Fünf-Opern, die weltweit laufend gegeben werden und die viele von uns unzählige Male erlebt haben. Wie macht man sich als Dirigentin frei von all den Beeinflussungen, die man im Laufe der Jahre gesammelt hat, um ganz man selbst sein zu können?
Ich denke nicht viel darüber nach. Es ist kein »O Gott, ich muss diese Erfahrung ausblenden, denn sonst ist das keine ›neue‹ Bohème!«. Ich habe die Bohème so oft gehört… und ich glaube nicht, dass ich vergessen will, was ich alles gehört habe. Zumal gerade die Bohème eine Oper ist, mit der ich eng verbunden bin. Fun Fact: Meine ersten Erfahrungen mit La bohème machte ich, als ich sie in Vilnius, meiner Heimatstadt, im Kinderchor sang. Das war eine Kultproduktion, mit Asmik Grigorian als Musetta, die in Litauen schon damals ein Star war. 25-mal stand ich auf der Bühne – und viele Jahre später dirigierte ich genau diese Produktion. Ach, das war schon ein besonders berührender Moment, denn ich konnte mich noch so genau an alles erinnern. Die Kostüme, den Unsinn, den wir als Kinder getrieben haben… Nein, das will ich natürlich nicht vergessen!
Bereitet es Ihnen Mühe, in der Bohème emotional nicht weggespült zu werden? Nicht nur wegen Ihren Erinnerungen, sondern an sich, weil das Werk einen so berühren kann?
Das geht ganz automatisch, dass ich nicht weggespült werde. Denn auch wenn sehr viel Emotion bei der Arbeit im Spiel ist, gibt es einen Instinkt, der einen schützt: Wenn man auf der Bühne steht, ist es etwas anderes, als im Publikum zu sitzen. Wenn ich mir eine Oper anschaue, kann ich eine Stunde lang weinen – aber nicht, wenn ich im Orchestergraben bin. Irgendetwas ist da geregelt: Wann welche Hirnhälfte tätig wird.
Und was ist schöner?
Ich liebe beides. Etwas zu gestalten, aber auch zuzuhören. Ich bin eine leidenschaftliche Opernliebhaberin und ich gehe wirklich in viele Vorstellungen.
Was macht nun eine gute Puccini-Dirigentin aus? Im Vergleich etwa zu Mozart oder Verdi? Oder ist alles ein Handwerk, egal, welcher Komponist?
Ich finde Puccini durchaus heikel, gerade auch die Bohème. Es gibt viele Tempowechsel, viel Freiheit – aber auch viel Ausgeschriebenes, an das man sich halten soll. Man muss während der Vorstellung die Sängerinnen und Sänger lesen können, also wissen, was sie gerade brauchen, aber das betrifft jede Opernaufführung. Natürlich sollte man das Werk ausgesprochen gut kennen – übrigens auch das Libretto. Denn es ist ein guter Text! Witzig und gefühlvoll, genau dosiert, mit viel Schmelz, aber auch viel Schmäh. Wenn man ihn genau kennt, ist es fast die halbe Bohème-Miete, denn dann ergeben sich die Tempowechsel und Übergänge ganz organisch.