DER DURCHBRUCH des Genial-Neuen
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Über Alban Bergs Wozzeck gibt es meterweise Literatur, Analysen sonder Zahl. Die Außergewöhnlichkeit und Schwierigkeit des Werks fordert offenkundig ihren literarischen und wissenschaftlichen Tribut. Braucht auch ein Dirigent in der Vorbereitung noch mehr Beschäftigung, noch mehr Literatur, noch mehr Analysen als bei anderen Werken des Repertoires?
Philippe Jordan: Die gewaltige Menge an bestehenden Auseinandersetzungen ist auf alle Fälle eine große Hilfe. Dass man sich zu Alban Bergs Zeit theoretisch so intensiv mit dieser Oper beschäftigt hat, ist klar – es war eine neue musikalische Sprache, die man erst erlernen musste. Aber auch heute ist die Darstellung und erklärende Analyse des komplexen musikalischen Baus dieser Oper eminent wichtig. Denn dadurch, dass Berg sich mit dem Wozzeck in eine freie Tonalität begeben hat, braucht es umso mehr eine Struktur, um verständlich zu werden: und diese wird durch die verwendeten vielfältigen musikalischen Formen geboten, in denen die einzelnen Bilder und Akte gestaltet sind. Etwa eine Suite, eine Rhapsodie, eine Symphonie und so weiter. Ich erinnere mich, als ich zum ersten Mal – noch als Korrepetitor – an Wozzeck herantrat: Ich habe pro Seite einen Tag gebraucht, um das Stück in die Finger zu bekommen. Dabei hat mir die Lektüre über die einzelnen verwendeten Formen sehr geholfen, um die Struktur der Oper zu verstehen und mich zurecht zu finden. Man kann debattieren, ob die Formen für die Handlung wichtig sind, für den inneren musikalischen Zusammenhalt jedenfalls sind sie es in höchstem Maße!
Wieweit sind diese Formen innerhalb der Oper erkennbar bzw. in ihrem Wesen klar? Sind es »echte« tradierte Formen oder geht es eher um eine Hommage, eine Annäherung?
Philippe Jordan: Ich denke, hier geht es mehr um das Assoziative. Es sind in der Suite im 1. Bild zum Beispiel Elemente einer Gigue zu erkennen, aber vieles entdeckt man nicht aufs erste Hinhören. Da geht es mehr um einen Charakter, der ausgedrückt werden soll.
Nun kennt wahrscheinlich nicht jede Zuhörerin, jeder Zuhörer die vorkommenden Formen. Handelt es sich also mehr um eine Information für die Ausführenden?
Philippe Jordan: Ganz generell glaube ich, dass je mehr jemand weiß, desto größer seine oder ihre Freude am Erlebten ist. Natürlich: Für uns Interpreten ist das Wissen um den Aufbau grundlegend, es ist wie eine Landkarte, die einem Orientierung verschafft. Aber auch für eine Hörerin oder einen Hörer ist es vielleicht spannend zu wissen, dass das zweite Bild eine Rhapsodie darstellt oder es im dritten Akt um Inventionen geht. Man muss es nicht wissen, aber je weiter man in die Tiefe geht, desto genauer versteht man das Stück. Wenn man etwa weiß, dass Berg gleich in den ersten Takten die Pastoral-Symphonie von Beethoven zitiert, dann wird einem fortan diese Stelle immer aufs Neue auffallen.
Andere Stellen, wie etwa das Zitat aus Schönbergs Gurre-Liedern im 3. Akt, sind mehr eine Rätselrallye für Fachleute.
Philippe Jordan: Es war nicht nur zur Zeit Bergs gang und gäbe, dass man von Kollegen kleine Passagen übernahm und, in einem sinnreichen Zusammenhang, in das eigene Werk einfließen ließ. Das kennen wir ja auch von Mozart, besonders von Strauss und vielen anderen. Das konnte eine Verbeugung vor einem Kollegen sein, ein Augenzwinkern oder ein bewusst gesetztes Zitat, das einen weiterführenden Sinn hatte. Die Beziehung zwischen Schönberg und Berg war zudem extrem eng. Dass also Berg ein Motiv aus einem Werk seines Lehrers Schönberg verwendete, das er sehr gut kannte, ist nicht weiter verwunderlich.
Eine spannende Frage ist bei Wozzeck, in welchem Maße die Oper freitonal ist, beziehungsweise, ob es doch noch eine Tonalität gibt.
Philippe Jordan: Es gibt Passagen mit einem tonalen Bezug, etwa den Epilog in d-Moll oder den Ländler in g-Moll. Ob atonal oder freitonal oder atonikal – das ist eine umfassende, lang geführte Diskussion der Fachleute.
Welche – auch inhaltliche – Funktion haben diese tonalen Inseln?
Philippe Jordan: Berg war, im Gegensatz zu Schönberg und Webern, ein unglaublich publikumsfreundlicher Komponist. Ein Urmusikant, der ein Vokabular benützte, das ganz aus der Tradition der westlichen Musikgeschichte stammte. Wir haben schon Formen wie die Suite im ersten Bild angesprochen, ein anderes Beispiel ist die Verwendung von spezifischen Tonarten. Viele wissen, dass d-Moll oftmals für den Tod steht – nicht umsonst ist Mozarts Requiem in dieser Tonart geschrieben. Der Epilog der Oper in d-Moll ist also nichts anderes als ein Requiem für Wozzeck. Die Suitenform wiederum, die im ersten Bild – Hauptmann und Wozzeck – verwendet wird, verweist auf die Barockzeit, jene Epoche, in der die Commedia dell’arte ihre Hochblüte erlebte. Und der Hauptmann hat – wie auch der Doktor und der Tambourmajor – in einzelnen Stilelementen eine Verwandtschaft mit der Commedia dell’arte. Er ist ein Typus, eine überzeichnete Schablone. Seine Typenhaftigkeit erkennt man übrigens schon daran, dass er keinen Eigennamen hat, sondern nur durch seinen Beruf definiert wird – ganz im Gegensatz zu den zutiefst menschlich gezeichneten Figuren von Wozzeck und Marie. Ein weiteres Beispiel für die wirkungsvolle Technik Bergs ist die Verwendung des Tones H, für Berg ein Todeston, der immer dann ganz präsent wird, wenn es in Wozzeck um das Sterben oder den Mord geht. So hört man ihn ganz deutlich, wenn Wozzeck nach dem Ringkampf mit dem Tambourmajor sagt: »Einer nach dem anderen«. Und natürlich in der zweiten Szene des dritten Aktes, beim Mord an Marie. Die lauernde Gefahr, die Berg da eindrücklich zum Ausdruck bringt, die bekommt man auch emotional mit, ganz ohne musikalisches Hintergrundwissen.
Dazu kommen einzelne Motive, die wiedererkennbar sind. Etwa das charakteristische »Jawohl, Herr Hauptmann«. Dienen sie als Gerüst fürs Publikum oder haben sie auch inhaltliche bzw. atmosphärische Wirkungskraft?
Philippe Jordan: Hier kann man auf eine Wagner-Tradition verweisen, Berg war ja ein großer Wagner-Kenner. Die Motive sind unter anderem auch eine Orientierungshilfe für die Zuhörerinnen und Zuhörer, sie haben aber ebenso eine Bedeutung in der Erzähltechnik und geben Aufschluss über Hintergründiges. Etliche erkennt man leicht wieder, wie etwa das Arme-Leute-Motiv, das immer wieder zu hören ist.
Ein weiterer Einfluss kommt von Debussy, es gibt sogar entsprechende handschriftliche Vermerke von Alban Berg.
Philippe Jordan: Vor allem die Zwischenspiele sind sehr stark von Pelléas et Mélisande beeinflusst, aber auch der Schluss der Oper weist in vielem auf Debussy hin. Das zeigt, dass die Zweite Wiener Schule nicht nur in ihrem Saft geschmort, sondern alle Erneuerer der Musik rezipiert hat. Auch andere dürfen da nicht vergessen werden, etwa Igor Strawinski. All das zeigt, wie offen Bergs Gedankenwelt war oder ganz allgemein: Wie sich die Komponisten der Zeit umgeschaut haben und über ihren Horizont blickten.
Jetzt haben wir die Zwischenspiele angesprochen: Was sind sie eigentlich? Seelenräume? Weiterentwicklungen? Überleitungen?
Philippe Jordan: Ich denke, sie sind auch Teil des Wagner-Erbes, das über Debussy und Berg bis Benjamin Britten reicht und das jeder auf seine Weise, aber alle gleichermaßen kongenial, erweitert hat. Ja, die Zwischenspiele sind Seelenräume, Klangräume, die vom Publikum sehr intuitiv und direkt begriffen werden können. Sie gehören zu jenen Teilen der Oper, die sehr stark wirken, Atmosphäre erzeugen und durch ihre besondere Klanglichkeit auch aufs erste Hören »verstanden« werden können.
Die Commedia dell’ arte-Verwandtschaft des Hauptmanns und Doktors wurde schon angesprochen. Berg schreibt für den Hauptmann einen Tenor-Buffo, für den Doktor einen BassBuffo vor. Das deutet auf einen bewusst zugespitzten Charakter hin?
Philippe Jordan: Wobei ich das durchaus sozialkritisch sehen würde. Wir erleben eine eiskalte Welt rund um diese im Grunde bitterbösen Figuren. Durch die ihnen innewohnende Ironie und die Commedia dell’arte-Anklänge bekommen sie etwas Komisch-Böses, was sie noch grausamer macht. Eine Bissigkeit und Schärfe, die auch musikalisch in die Charaktere eingeschrieben ist.
Mehrfach ist das Wort Atmosphäre gefallen. Hören Sie in Bergs Wozzeck auch illustrierende Musik, die bildhaft auf etwas verweist? Wenn die Oper etwa mit den leeren Quinten endet: Sind diese hohlen Laute die Darstellung einer Hoffnungslosigkeit, die auch das Kind mit seinen Hopp-hopp-Rufen ergreift?
Philippe Jordan: Einer der faszinierenden Aspekte dieses Schlusses ist seine Vieldeutigkeit. Man kann einen hoffnungslosen Befund ausstellen, das Ende aber gleichermaßen offen sehen. Ich höre da ein Fragezeichen und ein Rufzeichen: Ist das Kind, das keinen Vater und keine Mutter mehr hat, der nächste Wozzeck? Hat das Kind überhaupt eine Chance, diesem Kreislauf zu entkommen? Berg lässt es mit einem plötzlichen Abbruch enden und verwendet keine klassischen Schlussakkorde. Man kann nur verblüfft zusehen, wie der Komponist hier mit der Tradition bricht und etwas Genial-Neues schafft
Schönberg war nach Abschluss der Komposition hingerissen von der Theater-Qualität der Oper. Er meinte, es ist, als hätte Berg – der ja zuvor keine Oper geschrieben hatte – nie etwas anderes gemacht.
Philippe Jordan: Das ist tatsächlich faszinierend! Ich glaube, dass man hier einfach das Genie Berg erblickt. Letztlich ganz ohne Vorstufe schafft er eine Oper, die perfekt ist. Natürlich, Büchners Vorlage ist großartig und Berg war durch sie zutiefst inspiriert. Aber dennoch: Diese unglaubliche Fantasie, die technische Vollkommenheit, das Gespür für Dramaturgie, all das ist verblüffend. Ich dirigierte vor Kurzem die Altenberg Lieder von Berg aus den Jahren 1911/12, also ein Werk, das rund zehn Jahre vor dem Wozzeck geschrieben wurde. Am ehesten kann man in ihnen so etwas wie einen Vorlauf sehen, wobei man noch merkt, dass ihm an manchen Stellen die Erfahrung fehlte. Es ist noch ein bisschen »überinstrumentiert«, man muss als Dirigent noch helfend eingreifen – was beim Wozzeck absolut nicht mehr notwendig ist.
Alban Berg legte beim Gesang besonderen Wert auf eine kantable Ausführung…
Philippe Jordan: …und gerade das macht ihn auch so populär. Im Gegensatz zu vielen anderen Komponisten, auch vielen zeitgenössischen, deren Intervallik und Rhythmik fast nur noch instrumental zu bewältigen ist, denkt Berg immer gesanglich und melodiös. Selbst die schwierigsten Sprünge sind realisierbar, und es gibt meist einen Kern, den man, einmal kennengelernt, relativ schnell mitsingen kann. Dasselbe gilt für seine Orchestersprache, die unglaublich verführerisch sein kann, ja rauschhaft sinnlich. Und Berg suchte immer wieder, selbst als er die Zwölftontechnik anwandte, nach harmonischen Bezügen. Er mogelte eine Konsonanz hinein und nützte die Möglichkeiten, mit ihr zu spielen.
Wie viel Freiheit bleibt einem überhaupt noch in einem Stück, in dem Alban Berg sogar die Geschwindigkeit des Vorhangfallens in der Partitur genau notiert? Bleibt da für die Interpretinnen und Interpreten Spielraum?
Philippe Jordan: An Details wie der genauen Festlegung des Fallens und Öffnen des Vorhangs erkennt man, wie wichtig dem Dramaturgen Berg alle Elemente eines Abends waren – und nicht nur die Musik. Ich würde sagen, dass einem musikalisch gar nicht so viele Freiheiten bleiben, was aber völlig in Ordnung ist. Denn Wozzeck ist so gut geschrieben, dass es schon schwer genug ist, alles genau so umzusetzen, wie es sich Berg gedacht hat. Andererseits, und da sehe ich eine Verwandtschaft mit Gustav Mahler: Es gibt dann doch Mehrdeutiges, alleine schon bei Tempowechseln oder Tempoangaben. Und da und dort lässt Berg einiges an Raum, etwa in der Gewichtung des Orchesterklangs. Aber letztendlich geht es einfach darum, die Partitur möglichst detailgetreu umzusetzen. Da gibt es genug zu tun!
Eine letzte Frage: Warum muss diese Oper für alle Beteiligten so schwer sein? Hätte es für denselben Ausdruck und dieselbe Wirkung nicht auch einfachere Wege gegeben? Oder braucht es diese höchste gemeinsame Anstrengung, alleine schon in der technischen Bewältigung, um die Intensität zu erzeugen?
Philippe Jordan: Vielleicht. Vielleicht braucht diese komplexe, vielschichtige und kluge Sicht auf die Welt eine entsprechende formale und technische Komplexität. Vielleicht gibt gerade diese enorme Komplexität dem Werk auch seine Tiefe, sein aufrührendes, verstörendes und uns immer weiter beschäftigendes Potenzial. Mit Lulu ist es ja ganz ähnlich. Fast scheinen Büchner und Wedekind nach dem Erleben dieser Opern plötzlich etwas flach. Und letztendlich geht es in Wozzeck ja um Leben und Tod, um die Gesellschaft, um Ausbeutung, um die existenziellen Fragen. Berg packt all das in ein großes Ganzes, ohne etwas zu verkleinern oder nicht vollends auszuschöpfen. Gewiss, als Dirigent finde ich hier und da einen Übergang, bei dem ich mir denke: »Jetzt macht er es uns aber nicht leicht«. Aber, wie Sie sagen, vielleicht braucht es diese Anspannung, um den Fragestellungen, die diese Oper an uns richtet, gerecht zu werden.