Der dunklen Macht ergeben
Wenige Stücke der Opernliteratur waren in ihrer Rezeptionsgeschichte einem derart intensiven und häufigen Paradigmenwechsel unterworfen wie Webers Freischütz: Galt Weber beispielsweise den einen als Schöpfer des natürlichen Volkstons, den anderen als „deutschester“ Komponist (Wagner), so führen ihn heutige Musikologen als Beispiel eines paneuropäischen Geistes modernster Prägung an; sahen manche im Freischütz das Gespenstische als zentrales Handlungselement, wollten jene das Schicksal oder die Natur, konkret den Wald, als eigentliche Hauptrolle erkennen (Pfitzner). Später verwies man gerne darauf, wie sehr Weber ganz grundsätzlich in der Nachfolge der französischen Revolutionsoper bzw. hinsichtlich der Verwendung des Volksliedtons in der Nachfolge von Haydn und Beethoven stand. Und von einer fehlgedeuteten, nationalsozialistischen Vereinnahmung blieb diese Oper natürlich ebenso wenig verschont wie schon Beethovens Fidelio. Ungeachtet all dieser Überlegungen gehört der 1821 in Berlin uraufgeführte Freischütz, diese im umfassenden Sinn „romantische Oper“, nach wie vor zum beliebten Kernbestand des deutschsprachigen Repertoires (in den USA beispielsweise fehlt er hingegen als beharrlicher Unbekannter in den Spielplänen).
Hinsichtlich des Szenischen erfuhr das Werk vor allem im deutschsprachigen Raum, und nicht zuletzt durch die Schrecknisse und allumfassenden Bedrohungen im 20. und 21. Jahrhundert, eine grundsätzliche Vertiefung und Neuausrichtung in der Aufführungstradition. Gerade darum aber gilt der Freischütz immer mehr als Prüfstein, als gewaltige Herausforderung für Regisseure, die die Vielschichtigkeit des Stückes ausloten und nicht in die Falle einer falsch verstandenen Biedermeier- Schauder-Ästhetik gehen wollen.
Christian Räth, der an der Wiener Staatsoper vor drei Jahren Verdis Macbeth herausgebracht hat, nähert sich dem der Freischütz-Partitur innewohnenden Wechselspiel aus Schönheit und Abgründen, indem er den männlichen Protagonisten Max in ein neues Umfeld stellt respektive sein Betätigungsfeld erweitert. Er ist bei Räth nicht bloß Jäger, sondern zuvordererst Künstler, genauer Komponist. (Ob auch in gewisser Weise ein Abbild Carl Maria von Webers sei bewusst dahin- bzw. dem Zuschauer freigestellt, da in Wahrheit unerheblich.) Damit gliedert Christian Räth die Freischütz-Handlung in eine alte, seit dem Mittelalter bestehende Denk- und Erzähltradition ein, nach der geniale Künstler ihre kreative Schöpfungskraft aus dunklen, verbotenen Quellen speisen – oder wie William Blake es formulierte: „The true poet is of the Devil’s party“. Max’ wohl psychologisch motiviertes Nicht-schießen- Können wird auf diese Weise als Inspirationsblockade gelesen, die ihn am Beginn einerseits daran hindert, seine Oper zu vollenden und ihn andererseits in Tagträume ausweichen lässt, die seinen von ihm erhofften Ruhm und Erfolg antizipieren. Die Fallhöhe, die sich dadurch zu Max’ Realität auftut, wird entsprechend größer und macht ihn anfällig, zu neuen, bisher unbeschrittenen Wegen verführt zu werden: Was ihm der geheimnisvoll-bedrohliche Caspar dann allerdings einflüstert, Inspirationen nämlich, denen sich Max bis dahin aus moralischen und gesellschaftlichen Gründen nicht zu ergeben getraut hat, könnten, so Christian Räth, durchaus aus ihm selber stammen. Das Publikum erlebt somit auf der Bühne Max’ Innenschau, den Freischütz gewissermaßen aus seiner Perspektive – Realität und Visionen wechseln einander ab, überlappen sich und sind zum Teil bewusst nicht voneinander zu trennen. Die ihn umgebenden Charaktere erscheinen folglich auch als Projektionsfläche des um die Schaffenskraft ringenden Komponisten. Auf jeden Fall ist Max hier, vielleicht sogar mehr als sonst, aufgespannt zwischen der dunklen, dämonischen Macht Caspars, gewissermaßen Max’ Alter Ego und der lichten, behüteten und behütenden Welt Agathes. Eine Spannung, die ihn nicht nur zu zerreißen droht, sondern seine künstlerische Hemmung erst mitauslöst. Will Max Agathe tatsächlich und in letzter Konsequenz heiraten – ist er nicht vielmehr als ein von der Kunst Besessener, eher mit seiner eigenen Musik liiert? Ist der Schuss auf Agathe nicht ein Versuch des Ausbrechens aus einer vermeintlich heilen, aber in Wahrheit einengenden Welt, in der Max als schaffender Künstler seiner inneren Stimme nicht folgen kann und darf? Ist das Ende der Oper für ihn nicht bloß eine Erlösung in Anführungszeichen? Schließlich steht er wieder am Beginn seiner Mühen und muss nun ohne Rückgriff auf ein gewisses Kreativpotenzial Gültiges schaffen.
Viele Sänger und Schauspieler betonen gerne, dass sie Aspekte ihre Charakters, die in unserer Zivilisation oder ganz grundsätzlich im Zusammenleben mit anderen besser unausgelebt bleiben, auf der Bühne oder im Film endlich künstlerisch gewinnbringend einsetzen können. Oder, dass sie im Erarbeiten einer Figur, auf erschreckende persönliche Eigenschaften gestoßen wären, die sie für das dankbare Publikum offen legen. Denn das Dunkle, Dämonische übt auf Zuschauer seit jeher eine sonderbare Faszination aus. Nicht umsonst gehört die gespenstisch-teuflische Wolfsschluchtszene im Allgemeinen zu den populärsten Passagen im Freischütz. Vielleicht, weil das Benennen und Dargestelltsein dessen, was bei uns Angst verursacht, eine unbewusste Bannfunktion auslöst und befreiend wirkt. Ja, das Theater hat seit jeher auch psychotherapeutische Aufgaben, für die die künstlerisch Schöpfenden (und Nachschöpfenden) ihre Opfer bringen und wenn man will, eine Form der persönlichen Schuld auf sich laden: Nämlich jene, dass sie, eingeigelt in ihrer Kunst-Welt, in der es oft nur wenig Platz für andere Menschen gibt, Gefühle überhöht zum Ausdruck bringen, die sie paradoxerweise selber nicht zu leben imstande sind. Und so gesehen, zeigt der Freischütz in dieser Neuproduktion ein Künstlerdrama, in dem sich der Protagonist entscheiden muss, zwischen seiner Verantwortung gegenüber der Wahrheit seines Schöpfertums und der Verantwortung gegenüber seinen ihn umgebenden und liebenden Nächsten.
INHALT
Um sowohl den Dienst als fürstlicher Förster als auch die Hand Agathes zu erlangen, muss Max zuvor einen schweren Probeschuss abgeben. Da der sonst hervorragende Schütze plötzlich in den Wochen vor dieser für ihn wichtigen Entscheidung nichts mehr zu treffen imstande ist und seine Verzweiflung immer größer wird, auch beim alles entscheidenden Probeschuss zu versagen, lässt er sich von Caspar verführen, mit Hilfe Samiels, also des Teufels sieben verbotene, magische Freikugeln zu gießen – nicht wissend, dass die letzte dieser Kugeln eben nicht das anvisierte, sondern ein vom Teufel ausgesuchtes Ziel treffen würde. Beim Probeschuss lenkt der Teufel die Kugel zwar Richtung Agathe, doch wird sie durch einen Kranz geweihter Rosen eines heiligen Eremiten vor einer Verletzung bewahrt. Samiel holt sich Caspar, der durch die Verführung Max’ auf Aufschub seiner anstehenden Höllenfahrt gehofft hatte und Max erhält ein Probejahr auf Bewährung.
Andreas Láng
Carl Maria von Weber
Der Freischütz
Premiere: 11. Juni 2018
Reprisen: 14., 17., 20., 25., 28. Juni 2018
KARTEN & MEHR