Dem Mythos ein SCHNIPPCHEN schlagen
Monteverdis grundstürzende Idee, mit den Mitteln des Theaters zu musizieren und mit den Mitteln der Musik Theater zu spielen, wurde im Verlauf der Operngeschichte immer wieder kompromittiert. Als verhängnisvoll erwies sich die einseitige Betonung des an ihr vermeintlich Reproduzierbaren, der Partitur, zu Lasten des szenischen Augenblicks. Statt auf dem Anspruch gegenwärtiger Theaterkunst zu bestehen, begnügte man sich mit mehr oder weniger dekorativen Passepartouts für durchreisende Dirigier- und Gesangsstars. Oper regredierte zum kulturellen Ritual. Um den Widerholungszwang, unter dem die Spielpläne der Opernhäuser bis heute stehen, zu brechen, bedarf es unbotm..iger szenischer Phantasie und Geistesgegenwart. Es ist ein großes Glück für die Staatsoper, dass Bogdan Roščić für seine Ambition, das Kernrepertoire neu zu denken, Barrie Kosky als Mitstreiter für einen auf die kommenden drei Spielzeiten angelegten Mozart-Da Ponte-Zyklus gewinnen konnte.
Schon seit längerem behauptet sich Barrie Kosky als einer der führenden Opernregisseure unserer Zeit. Zum Geheimnis seines Erfolges trägt die Vielzahl kreativer Spielmöglichkeiten und Kulturtechniken, über die er verfügt, sicher entscheidend bei: als Regisseur, der sowohl im Schauspiel als auch in allen nur erdenklichen Musiktheaterformen unterwegs ist, aber auch als Pianist und Liedbegleiter, Performer und Arrangeur. Erinnert sei an seine Poppea 2003 am Wiener Schauspielhaus, an dem er von 2001 bis 2005 Ko-Direktor war: Kosky kombinierte die Musik Monteverdis mit Songs von Cole Porter, saß selber am Klavier und führte Musicaldarsteller und Schauspieler zu einer intensiven spartenübergreifenden Ensembleleistung. Die Heterogenität von Theaterwelten und Kulturen, aus denen er schöpft, bewahrt ihn vor der Stagnation in ästhetischer Stromlinienförmigkeit, die bei manchen seiner exklusiv im Opernfach tätigen Regiekollegen zu beobachten ist (sofern sie nicht verstehen, genügend kreative Widerstände in ihre Arbeit einzubauen).
Kosky misstraut dem falschen Tiefsinn hochgestochener Klassikerandachten. Ob Offenbach-Operette oder Wagners Meistersinger, beides muss – zumindest auch – intelligente Unterhaltung sein und vor allem: gutes, lebendiges, kraftvolles Theater; vorher bringt es wenig, über Sinn und Inhalte zu reden.
In Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Bühnen- und Kostümbildnerinnen und Choreographen und in der kreativen Aneignung und Auseinandersetzung mit einem ungewöhnlich breiten Repertoire gelingt es Kosky, sich immer wieder neu zu erfinden. Seine Aufgabe sieht er nicht in der Anwendung eines Stils, sondern darin, für jedes Stück eine eigene, ganz besondere, nicht austauschbare Form zu entwickeln.
Der Enkel australischer Einwanderer mit jüdischrussisch-polnisch-ungarischen Wurzeln ist ein Kommunikationstalent. Nicht nur seine Sängerinnen und Sänger genießen es, mit ihm zu arbeiten. Zu den erstaunlichsten Erfolgen seiner Intendanz der Komischen Oper Berlin (seit 2012/13) zählt, wie es ihm gelang, die türkische Community dauerhaft an sein Theater an- und in es einzubinden. Dass die Inszenierungen des »schwulen jüdischen Känguruhs«, wie Kosky sich selbst einmal scherzhaft charakterisierte, ebenso intelligente wie kreative Kampfansagen sind an »Identitäre« jeder Couleur, dürfte sich herumgesprochen haben. Sein Wille zur Aufklärung und überbrückung rassistischer und sexistischer Vorurteile prägt nicht nur seine Arbeiten: Bewundernswert souverän und gelassen hat Kosky es einmal sogar auf sich genommen, sich in einem Gespräch vor laufender Kamera den antisemitischen Ausfällen eines aus dem Schuldienst entfernten rechtsradikalen Lehrers auszusetzen.
Im November vorletzten Jahres hatte der Schreiber dieser Zeilen Gelegenheit, Koskys Inszenierung von Fürst Igor unter der musikalischen Leitung von Philippe Jordan an der Pariser Bastille mitzuerleben. Ihre Beschreibung soll etwas von der Frische, der intelligenten Genauigkeit und dem Aufklärungspotential seines Musiktheaterschaffens spürbar werden lassen.
Alexander Borodins 1890 posthum uraufgeführte Oper Fürst Igor zählt zu den vergleichsweise wenigen russischen Titeln, die sich im internationalen Repertoire dauerhaft verankern konnten. Neben Mussorgskis ebenfalls unvollendet hinterlassener Chowanschtschina ist Fürst Igor die zweite große Choroper Russlands. In beiden Opern war der Komponist sein eigener Librettist, beide entstanden im Rückgriff auf altrussische Quellentexte – im Fall von Fürst Igor auf ein anonymes mittelalterliches Epos, das Igorlied. Dabei ist die Diktion von Borodins Libretto von großer Schlichtheit und Direktheit, anders als Mussorgskis archaisierende, auch das Kirchenslawische integrierende Sprache. Die wenigen ungew.hnlichen sprachlichen Prägungen erklären sich durch Borodins Übernahme bestimmter poetischer Bilder oder Redewendungen aus seiner alten Quelle. Gemeinsam ist beiden Opern auch, dass sie sich für das Schicksal der Verlierer historischer Ereignisse und Prozesse interessieren (sehr im Widerspruch zu den derzeit in Russland den Ton angebenden nationalistischen Ideologen).
Die Oper hat eine ganz eigene textliche und musikalische Dramaturgie. Auch in ihren dramatischen Zuspitzungen beh.lt sie ihre epische, konzertant-ausladendende Breite. Offenkundig und mit Erfolg suchte der Komponist fast liturgische Strukturen zu etablieren: emblematisch, lapidar und zugleich differenziert, mit Wechselgesängen von Solisten und Kollektiv. Dieser von der kompositorischen Substanz eindrucksvoll beglaubigte lange Atem, in Verbindung mit der deklamatorisch-melodiösen Schlichtheit der Sprachvertonung und dem Vertrauen auf die Tragfähigkeit der »undramatischen« orchestralen Anlage gemahnt am ehesten an Messiaens oratorisches Musiktheater vom Heiligen Franz von Assisi.
Wer Barrie Kosky für die Neuinszenierung von Fürst Igor engagiert hat, hat eine kluge, im besten Sinne »witzige« Entscheidung getroffen, aus einem ebenso unkonventionellen wie richtigen Empfinden heraus: Denn was das Stück zu einer Volksoper macht, ist nicht zuletzt sein exklusiver Aufbau aus Liedern, Tänzen und Chören. Bewusst hatte sich Borodin damit gegen die seinerzeit allmächtige Tendenz zur Durchkomposition gestellt.
Und so findet man veritable Songs, durchaus wie man sie als Selbstvorstellung einer Figur aus Singspiel, Operette oder Musical kennt, etwa die Selbstdarstellung Wladimir Galizkis als korrupter und dafür umso populärerer Willkürherrscher, der sich mit seinen Untugenden an Stelle seines Schwagers Igor empfiehlt, der gegen das marodierende Steppenvolk der Polowetzer in den Krieg gezogen ist. Aber auch die Rhythmik im finalen Kehraus der zu den Klassik-Top-Ten zählenden Polowetzer Tänze am Ende des 2. Aktes klingt geradezu Broadway-verdächtig. Und so schafft Kosky, gerade in dem er immer wieder auch die leichte Hand einsetzt, die ihm im Umgang mit Operette und Musical zur Verfügung steht, einen großen Musiktheaterabend. Auf Augenhöhe mit der Vorlage gelingt es ihm, das als undramatisch geltende Geschehen zu theatralisieren, so schon im Prolog mit der Sonnenfinsternis, deren Menetekel Igor zu verdrängen sucht.
In der Pariser Aufführung wird der Körper des Heerführers von Starrkrämpfen geschüttelt, eine schwarzbraune Flüssigkeit tritt aus seinen Poren, er rutscht von seinem Thron und windet sich auf der Erde, nur um seinen rebellierenden Körper und die eigene Schwäche gewaltsam in den Griff und wieder unter Kontrolle zu zwingen, gegen den Widerstand der eigenen Kreatürlichkeit sich und sein Volk zu einem Feldzug verdammend, der in der Katastrophe enden wird. Das Schicksal der von seinem Statthalter Galizki und seiner Soldateska geschändeten jungen Frau – im Original wird darüber nur berichtet –, erfährt bei Kosky eine verstörende Zuspitzung. Dabei entfacht Kosky in den Ch.ren und im Bewegungschor eine elektrisierende Energie.
Nicht ganz eingelöst wird sein furioser Zugriff lediglich im 2. Akt. Koskys mutige Uminterpretation der Begegnung der Slaven mit der asiatischen Kultur als Halluzination im Folterkeller des siegreichen Gegners vermochte mich nicht wirklich zu erreichen. Die Darstellung der Igor vom siegreichen Khan Kontschak angetragenen Freundschaft als brutalster Zynismus eines Folterers bleibt als Gedanke nachvollziehbar; doch die sich beim Zuschauer unweigerlich einstellende Reminiszenz an Abu Ghraib wird aufgrund der in diesem Akt zelebrierten Orientalismen der Musik nicht nur ästhetisch, sondern auch ideologisch problematisch – ist mit diesen Bildern doch unauslöschlich das Wüten einer westlichen Macht verknüpft, nicht das einer »orientalischen«.
Auch choreographisch überzeugen die sonst körpersprachlich so intensiven Choreographien, die Otto Pichler für den Abend schuf, in dieser berühmtesten Sequenz der Oper nicht ganz, bei aller Kraft der verfremdeten folkloristischen Totentanzkostüme von Klaus Bruns. Dafür gerät – nach dem ausgelassenen 3. Akt, von dem nur der zweite große Monolog Igors erhalten und vor das Finale des 4. Aktes eingeschoben wurde ( jede Aufführung muss sich aus dem Fragment ihre eigene Fassung schaffen) – die Schlusssequenz um so grandioser: mit Jaroslavna, der verratenen Gattin des Fürsten, die auf der Suche nach ihrem verschollenen Mann mit den Trümmern ihrer Existenz über eine Autobahn irrt, dann der große Monolog des sich selbst zerfleischenden Verlierers, die Wiederbegegnung mit seiner Frau, sein Davonlaufen vor sich selbst und vor der eigenen Scham und seine hierdurch bedingte Abwesenheit beim Jubelfinale, das die Heimkehr des Verschollenen feiern soll – letzteres vielleicht die genialste Wendung, die Kosky ersonnen hat. Sie macht sich zunutze, dass der Komponist den Titelhelden in diesem Schlussauftritt als nur pantomimisch mitwirkend vorgesehen hat: Bei Barrie Kosky finden die beiden Bänkelsänger Skula und Jeroschka, zwei proletarische, grotesk-komische Gestalten, den verloren liegen gebliebenen, ramponierten Feldherrenmantel Igors und treiben nun damit ihren Schabernack, während das Volk anarchisch-ironisch nur mehr diesem unschädlichen Popanz seine Reverenz erweist.
Dieses Fingerspitzengefühl und dieser Kunstverstand im Jonglieren mit den Bedeutungen einer Vorlage und vor allem: mit ihren Leerstellen verhindert, dass die Aufführung zu einem affirmativ-staatstragenden Tableau gerinnt. Nicht, indem ein solches Ende inszenatorisch »kritisch« denunziert und negativ bewertet (und damit doch bestätigt) würde, sondern indem Kosky es »hochgehen lässt«, es spielerisch auflöst. So bewährt sich die humane nicht weniger als die intellektuelle Kraft des Theaters.