Das Staatsopernorchester: Primgeiger Erich Schagerl
Bereits 38 Jahre, erzählt Erich Schagerl, spiele er im Orchester der Wiener Staatsoper. Fast vier Jahrzehnte, in denen, wie er meint, „schon vieles zusammen kommt.“ Vieles an Sternstunden, an großen Abenden, an Erinnerungswürdigem. Angefangen bei großen Werken und großen Dirigenten. Karajan, Bernstein, Kleiber, Abbado, Maazel, Muti, Mehta streut er ins Gespräch ein, über sie alle weiß er Schönes zu erzählen. Man merkt: Sein Herz ist groß und vieles wohnt darin, auch viele Kollegen und viele Komponisten. Fragt man ihn etwa nach seinen Favoriten, so eröffnet er mit „natürlich Richard Wagner und Richard Strauss“, um dann zu Rossini und Bellini überzuleiten, bei denen das Orchester „auch einmal lustig sein darf“, abgesehen von der kompositorisch meisterhaften Verarbeitung der Musik. Verdi sei sein Favorit, meint er weiter, vieles von Puccini schätze er und – selbstverständlich! – auch Mozart, dessen Don Giovanni sein Lieblingswerk schlecht hin sei. Aber auch das tschechische Repertoire, mit all den Janáček-Opern, Dvořák und Smetana ist ihm lieb. Mit anderen Worten: Die Oper, in ihrer Breite und Weite.
Und was er besonders schätzt an all dem? Den gemeinsam erzeugten Klang aller Beteiligten, die Schönheiten und die große Abwechslung an mannigfaltiger Emotionenmalerei. Stolz seier, überaus stolz und glücklich, an diesem Hausspielen zu dürfen. Denn: „Das ist einfach reine Freude!“
Dabei war es Erich Schagerl nicht an der Wiege gesungen, als Primgeiger im Staatsopernorchester zu landen. Denn seine geigerische Laufbahn begann – verhältnismäßig – spät. Elf Jahre alt war er, als ein Lehrer in einer Supplier stunde Aufnahmen von Wolfgang Schneiderhan und Yehudi Menuhin auflegte und selbst auf der Violine spielte. Kaum gehört, stand Schagerls jugendlicher Entschluss auch schon fest: Geiger will er werden! Also schnurstracks nach Hause und dort der Mutter den Vorschlag präsentiert. Es folgten Violinunterricht, einschlägige Weihnachtsgeschenke (etwa das Beethovensche Tripelkonzert mit Schneiderhan), eine kleine Affäre mit einem anderen Instrument, dem Saxophon, und schließlich „das Wichtigste“: von Musiklehrern organisierte Besuche an der Wiener Staatsoper. Bohème, Butterfly, Zauberflöte und anderes erlebte er – und ließ sich vom Funken entzünden. „Das hat mich geprägt“, stellt er noch heute nachdrücklich fest. Geprägt haben ihn auch die Aufnahmen des bereits zweimal genannten Geigers Wolfgang Schneiderhan, dessen „Schlichtheit, die Artikulation, die Klangschönheit – vor allem bei Mozart“. Und noch einer spielte eine entscheidende Rolle im Ausbildungsleben Schagerls: der heute legendäre Lehrer Franz Samohyl. Bekanntlich bildete dieser (selbst ein ehemaliger Philharmoniker) Generationen von Geigern zu Wiener Philharmonikern aus und war eine Art geigerische Kaderschmiede für die jeweils Besten. Den Unterricht gestaltete Samohyl als Gruppenstunde, wobei „Stunde“ nicht als einzelne, sondern als ganze Vormittage, Nachmittage zuverstehen ist. Man hörte also, wie die anderen musizierten, spielte selbst vor der Gruppe und konnte so vergleichen, vor allem aber von den anderen lernen. „Mit dem Druck des laufenden, halböffentlichen Vorspielens musste man lernen umzugehen“, erzählt Schagerl. „Aber irgendwann war es ganz natürlich.“ Jedenfalls war Franz Samohyl „ein Vollblutlehrer, der die Stärken und Schwächen erkennen konnte und darauf einging.“ Und ein Pädagoge, der die Betreuung sogar über die reine Unterrichtszeit hinaus erstreckte. „Die Brüder Seifert – die ja auch später Philharmoniker wurden – wohnten im selben Studentenheim wie ich und lernten auch bei ihm“, lacht Schagerl. „Später erfuhr ich, dass Samohyl sie „engagiert“ hatte, regelmäßig zu schauen, ob ich auchordentlich übe ...“
Und: Er übte. Nicht nur zwischen den Unterrichtseinheiten, sondern natürlich auch an Wochenenden, auch nachts, wenn es nötig war. Und so wurde aus dem Studenten Schagerl der ausgewachsene Geiger Schagerl, der acht Jahrelang im Schubert-Quartett spielte, um dann, mit 26, ins Staatsopernorchester zu wechseln. Eine neue Welt? Ja und nein. Denn einerseits eröffnete sich dem Musiker zwar ein neues Arbeitsterrain, andererseits traf er auf „Familienmitglieder“, also auf all jene, die in der Geigenklasse kennengelernt hatte. In dieser Familie ist es selbstverständlich, dass man auf die Älteren und Erfahrenen hört und später das Wissen an die Jüngeren weitergibt.
Heute, weiß Schagerl zu berichten, ist die Welt in manchem ein wenig anders. Das technische Niveau ist noch weiter gestiegen, der Wettbewerbsdruck, der bereits zu seinen Zeitenhoch war, sogar noch höher. Auch klanglich hat sich manches geändert; während früher – siehe oben – ein großer Teil der Geiger aus nur einer Geigenschule kam und so einen ähnlichen Klang erzeugte, ist die Palette heute größer geworden. „Man hört die ganze Welt“, beschreibt Schagerl die Entwicklung. Nicht geändert haben sich die Anforderungen an das Handwerk, aber auch an die Orchesterleiter. „Die feinen Dirigenten rudern nicht groß herum, sondern animieren das Orchester zum Mithören und Zuhören.“ In der Praxis bedeutet das: Als Musiker muss man ein Ohr auf die Bühne richten, ein Ohr auf das eigene Spiel … und das dritte Ohr auf alles andere, was im Orchestergraben so passiert“, schmunzelt Schagerl. Jedenfalls soll ein Austausch stattfinden, zwischen Dirigent und Orchester, Bühne und Orchester, Dirigent und Bühne. Und vor allem: „Ein guter Dirigent will nicht bewusst etwas Besonderes schaffen, sondern stets etwas Persönliches… Und er nimmt sich Zeit!“
Oliver Láng