"Das Ich muss das Du erkennen"

Es gibt innerhalb der Musik- und Opernszene wohl nur sehr wenige Personen, über die stets so euphorisch berichtet wird, wie über Georg Nigl. Ganz gleich, ob man mit den international bedeutendsten Regisseuren, Dirigenten, Musikern, Sängerkollegen über ihn spricht: Nie hört man die leiseste Kritik, immer nur überschwänglichstes Lob. Kein Wunder, schließlich lässt Nigl die zu interpretierenden Werke und Rollen mehr als nur gefährlich nah an sein Innerstes heran, dringt bis ans Mark der jeweiligen Musik vor, kennt nur vollkommene Hingabe in der höchsten Intensität. Ohne Zweifel also: Die vielschichtige, von persönlicher Schuld gequälte, mit sich und der Welt ringende Figur des Orest in Manfred Trojahns gleichnamiger Oper, dieser prometheushafte aus der Gesellschaft Ausgestoßene befindet sich nicht umsonst in Nigls persönlichem Rollenspektrum (schon 2017 hatte er die Partie an der Zürcher Oper in der vierten Neuproduktion des Werkes in der Regie von Hans Neuenfels mit großem Erfolg verkörpert) und das Publikum der Wiener Staatsoper kann sich glücklich schätzen, nun auch seine Interpretation dieses überaus herausfordernden Charakters kennen lernen zu dürfen.

Spannend war aber schon das Gespräch mit Georg Nigl für die aktuelle Ausgabe des Prolog, einige Wochen vor Beginn der Probenzeit, in dem sogleich seine tiefschürfende Auseinandersetzung mit dem Stoff, den antiken Vorlagen und der Trojahn’schen Vertonung offenbar wurde. Als eine der wohl ambitioniertesten und interessantesten Partien, bezeichnet Nigl diesen Orest, als einen persönlichen Weckruf, kommt auf Arno Gruens Der Fremde in uns ebenso zu sprechen, wie auf eine Strafvollzugspraxis in den USA, nach der manche Verurteile für Jahre gänzlich von jedem menschlichen Kontakt weggesperrt werden. Lange hatte Nigl über die Schuldfrage des Orest im Zuge der Erarbeitung der Rolle nachgedacht, lange über die Unausweichlichkeit von Orests Schuld, lange über dessen Verurteilbarkeit, um schließlich zu jener Erkenntnis zu gelangen, die sich letztendlich auch Orest als gangbarer Ausweg offenbarte: Nicht die Frage, ob und in welchem Ausmaß Schuld geschehen ist, sollte an erster Stelle stehen, sondern die Überlegung, wie der einzelne, jenseits jeder Kategorisierung, Gesetzeslage und Rechtsprechung – seine Eigenverantwortlichkeit erkennend – mit dem umgeht, was andere als Schuld zu erkennen meinen. Und erst darauf basierend könne der nächste Schritt, die Auseinandersetzung des Ich mit dem Du erfolgen. Auslöser für diesen Erkenntnisgewinn ist in Trojahns Oper letztendlich der Blick Hermiones, der Orest, nachdem er deren Mutter Helena ermordet hat, bis ins Innerste trifft. „So wie ein Ton durch Mark und Bein geht, kann dies auch ein tiefer Blick tun“, so Nigl, „und durch diesen Blick Hermiones wird Orest seine Unmenschlichkeit ebenso bewusst wie das ihm im jeweils Nächsten gegenüberstehende Du.“ Durch diesen Blick würde Orest ferner erkennen, dass jeder einzelne mit der Vernichtung eines anderen, zugleich einen Teil des eigenen Selbst vernichtet, sodass Orest erst an dieser Stelle wirklich begreift, was mit der grausamen Ermordung der Mutter tatsächlich ausgelöst wurde. Kurz schwenkt Nigl daraufhin um auf die aktuelle Klimakrise, betont die Parallelität der Situation und dass die Menschheit erkennen müsse, dass sie nicht die Erde zerstört, sondern in erster Linie sich selbst und kehrt dann zurück zur Oper, insbesondere auf Trojahn, auf die Genialität, mit der dieser den Stoff, den Text in das unglaubliche Triggermedium Musik umgesetzt hätte, auf die sinnliche Erfahrung, die eben diese Musik nach der langen Einstudierungsphase nun jedes Mal bei ihm auslösen würde, weist auf vielerlei Details in der Partitur hin und spricht über die besonderen Vorzüge dieser oder jener Stelle – versprüht kurzum schon bei diesem Gespräch derartig viel Begeisterung, dass selbst den abgebrühtesten Opernkenner eine unbezähmbare Sehnsucht nach den Aufführungen erfassen würde.
Und Georg Nigl gehört, siehe oben, beileibe nicht zu denjenigen, die nur im Theoretischen zu überzeugen vermögen ...

Andreas Láng 


Orest | Manfred Trojahn
14., 17., 20. November 2019
KARTEN & MEHR