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© Daphne und Apollo, Jakob Auer (1646 - 1706)

Daphne, ein grosses Küchengewürz

Mit Daphne glückte Richard Strauss ein wahrer Wurf, ein spätes Meisterwerk, in dem der über 70-Jährige den Erfahrungsschatz seines ganzen Komponistenlebens bündelte. Darauf aufsetzend gelang es Regisseur Nicolas Joel überzeugend, den griechischen Mythos rund um die jungfräuliche Daphne, die sich durch Verwandlung in einen Lorbeerbaum der Zudringlichkeit des Gottes Apollo entzieht, als Tagtraum einer sexuell vernachlässigten jungen Frau zu erzählen.
 

Beitrag von Günther Nenning

I.
Friedrich der Große verstieß seinen Hausphilosophen Voltaire, weil dieser des Königs Leibgericht kritisierte: Beinschinken, warm, in einem Bad aus Thymian, Wacholder und insbesondere Lorbeer. Daphne, laurus, Lorbeer – schreibt die moderne Gourmetkritikerin Dr. Ursula Winnington (Kö­chelei fürs Paradies, Klatschmohn Verlag, Rostock) – ist seit dreitausend oder mehr Jahren – »ein großes Küchengewürz«. »Daphne auf unseren Lippen garantiert uns eine Göttermahlzeit«, schreibt Winnington. Damit wechseln wir schon von der Gastronomie zur Mythologie. Apollo, ein Gourmet, der reihenweise Mädchen vernaschte, will Daphne als Götterspeise. Weil Daphne vor ihm flüchtet, wird sie in einen Lorbeerbusch verwandelt. Welch Glück für die morgen- und abendländische Küche. Richard Strauss bereitet sich Daphne als bekömmliches Altersgericht. Er war 74, als die Oper uraufgeführt wurde, in Dresden 1938, ein Jahr noch bis zum Zweiten Weltkrieg, nein, keine zehn Monate. Strauss war unterwegs vom Liebäugeln mit den Nazis zur immer handfesteren Gegnerschaft. Das Publikum reagierte ehrfürchtig, aber nicht überschwänglich. Frau Winnington schreibt in ihrem Kochbuch: »Daphne besitzt einen eigenartigen Geschmack, bitter und aromatisch zugleich, es schmeckt etwas nach Muskatnuss, ein wenig nach der weichen Schale der Walnuss und ein bisschen nach Vanille. Zum Glück behält Daphne ihr Aroma auch im getrockneten Zustand. Falls es zu schwinden beginnt, kann man die Blätter fein mahlen und dadurch wiederbeleben.« Gar keine schlechte Rezension der Daphne und ihres Nachlebens. Vielleicht ein bisschen zu viel Vanille.

II.
Aber das Zuviel-Vanille kann man bequem von der Musik wegschieben auf das Konto des Librettisten. Strauss vertrug sich ja nie mit seinen Textern. Am ehesten noch mit dem geistverwandten Hofmannsthal, der ihm aber in jungen Jahren wegstarb (1929). Am zweitehesten mit Stefan Zweig, der ihm 1938 durch Emigration entzogen wurde. Am wenigsten mit Joseph Gregor. Hochgebildet, feinsinnig, sachkundig, ihm demütig ergeben. Aber der Wiener Theaterhistoriker war ihm, typisch für Strauss, immer um ein bis zwei Oktaven zu anhänglich und zu begeistert. »Seien Sie«, putzte er ihn herunter, »misstrauisch gegen diese gefährliche ›wahre und echte Begeisterung‹ ... Solche Produkte halten weder dem nüchternen Kunstverstand stand, noch erwecken sie dieselben Empfindungen beim Zuhörer.« Strauss fand sich ab mit dem stets auf antikischen Stelzen daherkommenden Gregor. Verfuhr aber mit ihm voll bairischer Grobheit. Er ließ ihn drei Textversionen anfertigen, und auch die dritte passte ihm nicht. Gregor musste stets zu Änderungen bereit sein. Strauss setzte ihn in den Oberstock seiner Villa in Garmisch, Gregor musste die Reinschrift der jeweils jüngsten Textversion Blatt für Blatt hinuntertragen zu Strauss ins Parterre, wo dann zügig Musik draus gemacht wurde. Gregor ließ sich von Strauss beschimpfen, er schreibe einen »schlecht imitierten Homer-Jargon« und »Weltanschauungsbanalitäten.« Das ist grob, aber wahr. Zum Genuss der Daphne gehört das Weghören vom Text. Jammerschade, dass Strauss, der doch zeitlebens viel las, nicht auf Ludwig Christoph Heinrich Hölty stieß (1748-1776).

»Apoll, der gern nach Mädchen schielte, Wie Dichter thun,
sah einst im Thal, wo Schatten kühlte, Die Dafne ruhn.
Er nahte sich mit Stuzertritten
Mit Ach und Oh,
Doch Dafne schnell mit Zefirschritten Dem Gott entfloh.
Sie flog voraus; Apollo keuchte
Ihr hizig nach,
Bis er die Schöne fast erreichte
Am Silberbach«

Und so weiter, leichtfüßig, ironisch, frivol, aber nicht zu sehr. Das wäre freilich eine ganz andere Daphne geworden.

III.
Es ist gar nicht wahr, was Strausso- und Nietzscheologen gern behaupten: dass es in der Daphne um den unversöhnbaren Gegensatz ginge zwischen apollinisch und dionysisch. Hie hell, rein, keuschhie Rausch, entfesselte Sinne, schwere Unsittlichkeit. So haarscharf ist der Unterschied nicht einmal bei Nietzsche, bei Strauss schon gar nicht. Bei Strauss ist nichts unvereinbar, alles versöhnlich. Er hat die Salome­-Elektra-Musik gemacht, wild, schwül, pervers und ein Welterfolg – er hat die Daphne-Musik gemacht, schlank, schmal, bukolisch und kein so großer Erfolg. Aber seinem Alter sehr angemessen, eine ehrliche Umkehr. Gar so keusch ist die Daphne-Musik auch nicht. An allen geeigneten Stellen bricht der jüngere sinnenfreundliche Strauss ohnehin durch und liefert den nötigen Kontrast zur Alterskeuschheit. Strauss bleibt Strauss. Und das ist gut so. Was heißt apollinisch gegen dionysisch? Bei Strauss ist nicht nur Dionysos dionysisch, sondern der nach Nietzsches Theorie so gegensätzliche, hell und reine Apoll ist ein ganz schön geiler Bock, ein Schürzen- und Nymphenjäger. Seinen Liebestönen nicht zu trauen, kann man Daphne nicht verargen. Daphne ist eine Figur von rührender Reinheit, ohne dass man weiß, wo sie das her hat. Ihre Reinheit ist aber überlagert von sinnlicher Attraktion: Nichts ist für den Erotiker erotischer als Reinheit. Die Sehnsucht des Erotomanen – und das ist dieser Apollo – geht nicht nach Ausschweifung, die übt er sowieso, sondern nach Reinheit. Zuletzt, und das hat seine Logik, umarmt er kein Mädchen, sondern einen Baum. Daphne entscheidet sich nicht nur nicht für den Dionysos-Rausch, sondern auch gegen die Apollo- Geilheit. Der Nachsteiger Apollo, eindeutig sexuell interessiert, nervt sie. Sie ist gegen die Männer und für die Bäume. Wenn man so will, eine aktuelle, grüne, umweltbewegte, feministische Figur. Sie erteilt ihre Absage an die Männer, einschließlich und insbesondere Göttermänner/Männergötter. Ich behaupte, dass der post-postmoderne Megatrend nach Sex und immer noch mehr Sex in Umkehr begriffen ist. Der heraufziehende neue Megatrend geht nach Non-Sex und Anti-Sex. Aus Überfütterung und draus entspringender Langeweile kriegen wir einen Daphne-Komplex. Das ist naturgemäß auch deshalb, weil die westliche Menschheit rapid überaltert und es satt hat, immer zu dürfen, zu sollen, zu müssen. Wir wollen unseren Frieden. Der Übersiebziger Strauss hat das komponiert so gut er konnte, und er konnte sehr gut. Als Strauss die Josephs Legende komponiert, 1914, 50-jährig in Saft und Kraft, ärgert er sich: »Der keusche Joseph selbst liegt mir nicht so recht, und was mich mopst, dazu finde ich schwer Musik. So ein Joseph, der Gott sucht, dazu muss ich mich höllisch zwingen.« Hofmannsthal redet ihm zu, er möge suchen und finden »in der reinsten Region Ihres Gehirns... dort wo Aufschwung, reine, klare Gletscherluft...« Da tut sich der 74-jährige leichter, die Daphne kommt aus der reinsten Region seines Gehirns oder wo halt die Komponierlust und -wut angesiedelt ist. Und doch stimmt’s nicht mit der gletscherkühlen Reinheit, eigentlich ganz und gar nicht. Die Sinnenfreude verlässt den Salome-Meister nicht, sie wandelt sich nur. Der keusche Jochanaan, der keusche Joseph, erst recht die keusche Daphne – es sind Figuren, die nicht aus der faden Verweigerung leben. Sondern im Gegenteil: sind Lüstlinge der dritten Art. Nicht Mann und nicht Frau, sondern Sehnsüchtige nach viel stärkeren Reizen, als abgenudelte Erotik und Sex in Permanenz bieten können. In Worte lässt sich das nicht fassen, in Musik schon. Musica sola: Strauss ist der Komponist, dem keine Libretti genügen. Er landet, wo er hingehört: bei nichts als Musik. Seine Daphne-Keuschheit ist letzte Geilheit: Lust nach dem Paradies.

IV.
Das ist der menschliche Lebenslauf: Seine Wahr- heit besteht aus zwei Hälften, die selten zusam- menpassen, am seltensten beim Genie. Zum Genie gehört das geheimnisvoll Unzusammenpassende, mit zwei Hälften kommt es gar nicht aus. Je mehr Richard-Strauss-Biographien, -Antigraphien, -Apologien geschrieben wurden, desto unerklärter blieb seine Größe. Also Bescheidenheit: Man landet bei der Lust, Wi-dersprüche bestehen zu lassen. In der Nazizeit, zu der sich Richard Strauss zunächst relativ freund- lich einstellte, dann aber immer feindseliger – kam es zur Doppelpremiere zweier Strauss-Opern, 1938, Friedenstag in München, Daphne in Dres- den. Strauss wollte eine gleichzeitige Aufführung der beiden Einakter in München, das kam nicht zustande. Drei Monate nach dem Friedenstag in München gab es in Dresden die gemeinsame Aufführung, erst Daphne, dann Friedenstag. Dann der Weltkrieg. Strauss hielt bald seinen Wunsch, die beiden Opern gemeinsam zu bringen, nicht mehr für so glücklich. Sie passen zusammen wie die Faust aufs Aug. Frie­denstag endet zwar mit Frieden, ist aber bis dahin soldatisch und heroisch. Daphne ist von vornherein friedlich, voll Stille, Natur, Gewaltlosigkeit. Man kann auch meinen, die Faust aufs Aug passt ohnehin recht gut, man probiere nur. Was Strauss selber sich dachte, ist nicht erhebbar. Feststeht nur seine lebenslängliche Meinung: Mit Musik lasse sich alles sagen, insbesondere mit seiner Musik, Worte hingegen seien weniger geeignet, insbesondere die seiner Librettisten. Zusammengehöriges zu differenzieren, Widersprüchliches zu vereinen: Dafür ist Musik geeigneter als Sprache, Ton geschmeidiger als Text. Emil Cioran, der rumänische Nihilist, zitiert Nietzsches zärtlichen Satz: »Ich kann keinen Unterschied machen zwischen der Musik und den Tränen« (Von Tränen und Heiligen, 1937). Der Gregor-Text ist zum Weinen, aber es sind nicht jene Tränen, die in der Strauss-Musik schimmern. Es gilt, was Cioran zum Nietzsche-Zitat hinzufügt: »Alle wahre Musik entspringt dem Weinen, weil sie aus der Sehnsucht nach dem Paradies hervorgeht.« Ob das für die frühere, wildere Strauss-Musik gilt, ist fraglich. Für Daphne gilt es. Strauss, nach allerhand Vor- und Zwischenfällen in seinem Leben und daraus gezogenen Schlussfolgerungen, möchte heim ins Paradies, zurück zur Natur, oder wie man’s halt nennen will. Das ist der Zusammenhang mit dem Friedenstag, wo noch die Soldaten lärmen und den Frieden fad finden. In Daphne herrscht der Friede im Lorbeerhain. Freilich nicht der reale Friede. Bald kommt der Zweite Weltkrieg. Kriegslorbeer, grausig verknüpft mit Massenmord. Strauss bleibt bairischer Realist, sein alleiniger Lebenszweck ist die Musik, aber in dieser vollzieht sich die Umkehr: Es wird Musik zum Weinen nach dem Paradies. Es ist nicht mehr weit bis zu den Vier letzten Liedern (1947). Das letzte der vier, nach Eichendorff:

»Wir sind durch Not und Freuden
Gegangen Hand in Hand
Vom Wandern ruhn wir nun
Überm stillen Land.
Oh weiter, stiller Friede!
So tief im Abendrot! Wie sind wir wandersmüde –
Ist dies etwa der Tod?«

Abermillionen Tote ohne Namen. Und der eigene Tod. Nichts mehr von den Tollheiten der Salome. Ces-Dur, ein jenseitiger Akkord.

 

STRAUSS
DAPHNE

12. 15. 18. 21. SEPTEMBER 2023

Musikalische Leitung SEBASTIAN WEIGLE
Inszenierung, Bühne & Kostüm NICOLAS JOEL & PET HALMEN

Daphne HANNA-ELISABETH MÜLLER
Apollo DAVID BUTT PHILIPP
Peneios GÜNTHER GROISSBÖCK
Leukippos DANIEL JENZ
Gaea NOA BEINHART
Schäfer MARCUS PELZ, NORBERT ERNST, KS HANS PETER KAMMERER
Mägde ILEANA TONCA & ALMA NEUHAUS

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