Chaslin und sein Kollege Puccini
Sie haben an der Wiener Staatsoper rund 150 Abende dirigiert, ihr Debüt fand 1997 mit Bellinis I puritani statt. Können Sie sich noch an diese Vorstellung erinnern?
Frédéric Chaslin: Ja, sehr gut sogar! Denn es war ein Abend, der mich in vielfacher Hinsicht herausgefordert hat. Es war nämlich nicht nur mein Debüt, sondern es war eine Verkettung unterschiedlichster unvorhersehbarer Ereignisse. An diesem Abend hätte nämlich Edita Gruberova die Elvira singen sollen, sagte aber kurzfristig ab. Ioan Holender rief mich am Vormittag an und sagte: „Komm in die Oper zu einem Vorsingen. Vielleicht hörst du deine neue Elvira.“ Und so war es auch: Stefania Bonfadelli sang vor – und stand am Abend auf der Bühne.
Das bedeutet, dass es kaum noch die Gelegenheit zum ausführlichen Proben gab?
Frédéric Chaslin: Eben! Ich wurde ins kalte Wasser geworfen und schwamm einfach drauflos. Ich hatte damals ja noch keine so große Erfahrung. An diesem Abend aber erlebte ich alles, was passieren kann: Debüt, Erkrankung, Einspringen, keine Probe. Ich muss aber sagen: Es war eine gute Schule. Nach so etwas erschreckt einen anderes kaum noch.
Ist der Schrecken – groß oder klein – ein Begleiter für Sie? Wie sieht Ihr Nervenkostüm aus?
Frédéric Chaslin: Ich denke, wenn man an einem Haus wie der Wiener Staatsoper zum ersten Mal dirigiert, ist das immer eine besondere Sache. Zumal: Ich erinnerte mich damals an eine Biografie von Mahler, in der sinngemäß stand: Die Wiener sind das Beste gewöhnt, nur das Beste, und das fordern sie auch ein. Es wird von einem Künstler erwartet – und wehe, wenn ein Fehler passiert, und wäre er noch so klein. Man darf einfach keine Fehler machen… Stellen Sie sich vor, wie das für einen Dirigenten ist, der mit diesem Wissen beziehungsweise diesem Wien-Bild ans Pult tritt. Schon während meiner Studienzeit dachte ich daran, wie stressvoll es wohl sein muss, hier zu arbeiten.
Und ist es so?
Frédéric Chaslin: Es ist eine große Verantwortung! Und wenn es ein Stress ist, dann ein positiver. Jedenfalls hat das mit Angst oder Schrecken nichts zu tun.
Nach 150 Vorstellungen ist man ja als Dirigent auch Teil der Familie.
Frédéric Chaslin: Das ist das Schönste daran. Ich kenne das Orchester, mit vielen Musikern bin ich befreundet. Und ich habe als Pianist – bei einer Ballettproduktion – Beethovens 5. Klavierkonzert mit ihnen gespielt. Es ist eine einzigartige Art der Kommunikation: Wir können einander Bälle zuwerfen, haben eine ganz eigene Art, miteinander (auch augenzwinkernd) umzugehen. Außenstehende verstehen das gar nicht.
Braucht es dann weniger „Schlagaufwand“, wenn man mit einem Orchester so gut vertraut ist?
Frédéric Chaslin: Die Musiker brauchen viel Inspiration, aber weniger Kapellmeisterarbeit, also muss man vieles nicht schlagen. Man bekommt aber ebenso viel Inspiration, und das ist das Beste an der Sache. Einmal sagte ein Instrumentalist zu mir: Sie inspirieren uns! Das fand ich schön. Schließlich bin ich ja nicht nur zum Taktschlagen da, sondern eben zum Musizieren. Diese großartigen Musiker wollen ja auch keinen, der ihnen jede Einzelnote mit dem Dirigentenstab vorklopft, sondern einen, der eine Richtung vorschlägt. Ich gebe mein Bestes, und vom Orchester bekomme ich nur das Beste. Ich habe alle großen Orchester der Welt dirigiert – aber einen solchen Klangkörper gibt es tatsächlich nur ein einziges Mal. Einen, der sich seine Identität auch bewahren kann, seine Seele nicht verloren hat. Jedesmal bin ich aufs Neue entzückt und begeistert.
Nun besteht ein Opernabend nicht nur aus einem Orchester, sondern aus vielen Sängern, dem Orchester und vielen anderen Zutaten.
Frédéric Chaslin: Und alles zusammen nennt man dann Theater. Was mich an Opernabenden reizt ist – natürlich neben der Musik – das Theater an sich. Es ist eben nicht nur schöne Musik, es ist eben alles Dramaturgie, ein großer Zusammenhang, ein sich gegenseitig bedingendes und motivierendes Gesamtprojekt. Ich sehe mich ja an einem solchen Opernabend weniger als Dirigent, denn als Musik-Regisseur, der für eine durchgängige und logische Dramaturgie zu sorgen hat. Das Erzählen der Handlung ist der eigentliche Sinn des Abends.
Sie erzählen Handlungen aber nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist. Wie gehen Sie mit dieser Dualität um? Flüstert der Komponist in Ihnen mitunter Kritisches zu den Komponisten, die Sie dirigieren, zu?
Frédéric Chaslin: Ich würde zunächst einmal sagen, dass praktisch alles, was bei uns erklingt, von großen Meistern stammt und es sich somit um Meisterwerke handelt. Da gibt es nichts, oder nicht viel zu kritisieren. Mozart? Da kann man nichts ändern wollen. Auch nicht bei Wagner. Schwieriger ist es, wenn ich zeitgenössische Komponisten dirigiere. Da bringe ich laufend Verbesserungsvorschläge ein. Am Schlimmsten ist es aber, wenn ich meine eigenen Werke dirigiere: da kritisiert der Dirigent den Komponisten laufend und schlägt ihm Änderungen vor!
Und im Falle von Puccinis Turandot? Was sagt der Komponistenkollege Chaslin zu Puccini?
Frédéric Chaslin: Über die Musik braucht man keine Worte zu verlieren. Sie ist genial. Puccini ist genial. Speziell bei Turandot aber kann man ein wenig über die Dramaturgie reden … für meinen Geschmack haben Ping, Pang und Pong ein wenig zu viel Raum bekommen. Die Oper heißt ja Turandot, und nicht Ping-Pang-Pong. Der Regisseur dieser Produktion, Marco Arturo Marelli, hat das aber szenisch sehr gut gelöst. Da wird vieles erzählt, was uns auch mit dem Heute verbindet. Diese Minister, die keinem freien Staat entspringen, könnten auch als Nord-Korea kommen.
Es heißt immer, dass Puccini für Dirigenten besonders schwierig ist. Ist er das?
Frédéric Chaslin: Schwer ist immer der Anfang. Meine erste Bohème vor 20 Jahren fand ich schwer. Meine erste Tosca auch. Aber es gibt in Wahrheit keine schwierigen Stücke – nur solche, für die man etwas mehr Zeit braucht. Natürlich: Es gibt die Übergänge, die berühmten Rubati und Tempo-Wechsel bei Puccini. Aber die sind nur dann schwierig, wenn man nur an die Musik denkt. Betrachtet man die Opern Puccinis aus einer Gesamt-Theater-Sicht – dann ist alles ganz einfach. Zum Beispiel: Der Beginn von Bohème – da frieren die jungen Leute. Das bedeutet, dass die Musik in schneller Bewegung sein muss, denn in der Kälte bewegt man sich automatisch. Dann der Auftritt Mimìs: hier geht es nicht mehr um Temperaturen, sondern um Liebe, also wird ein neuer Ton, ein neues Tempo angeschlagen. Das ist alles naheliegend und schlüssig.
Merkt man, dass Puccini „nur“ Komponist, aber kein Dirigent war? Im Gegensatz zu Verdi, Wagner etc.?
Frédéric Chaslin: Absolut nicht. Er komponierte am Klavier, und es gibt einen kurzen Stummfilm, in dem man ihn komponieren, spielen, singen sieht. Und man merkt, wie er die Handlung durchlebt. Da brauchte es das Dirigat gar nicht mehr. Er hatte es im Instinkt, hatte ein Verständnis für Drama und Dramatik. Hätte er auch dirigiert, hätte es nichts geändert.
Oliver Láng
Giacomo Puccini
Turandot
13., 17., 20. April 2018