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Carmen in fünf Worten

Carmen und Micaëla – zwei Gegenspielerinnen, Konkurrentinnen, zwei unterschiedliche Charaktere. Wie verschieden sind sie aber wirklich? Wie denken sie über fundamentale Begriffe wie Liebe, Freiheit und Treue? Aigul Akhmetshina, weltweit als Carmen gefeiert und nun auch an der Wiener Staatsoper erstmals in dieser Rolle zu erleben und Wiens neue Micaëla Elsa Dreisig, die im Haus am Ring bereits als Manon brillierte, geben in fünf Antworten Einblick in die Seelenlandschaften ihrer Figuren.



»FREIHEIT«

Elsa Dreisig (Micaëla): Mit Micaëlas Freiheit ist es so eine Sache. Klar, sie ist frei und auch stark – wäre sie es nicht, würde mich diese Rolle überhaupt nicht interessieren. Auf der anderen Seite steht sie jedoch unter einem großen moralischen Druck. Wir alle kennen das ja: Man meint, ein freier Mensch zu sein, bis... jemand aus der Familie anruft. Und schon fühlt man sich ein bisschen weniger unabhängig. Einfach, weil man sich denkt: Ich muss dieses oder jenes so oder so machen, um den Erwartungen zu entsprechen. So geht es auch Micaëla: Sie meint, manches tun zu müssen, um andere glücklich und zufrieden zu machen. Und schon ist es passiert, und Micaëlas Freiheit ist wieder ein bisschen kleiner geworden.

Aigul Akhmetshina (Carmen): Ein Schlüsselwort für Carmen! Das beginnt schon bei der Rollengestaltung: Man braucht als Sängerin im Moment der Aufführung ausreichend Freiheit und Raum für Improvisation und kann nicht alles im Vorfeld zu einhundert Prozent fixieren – sonst passt man einfach nicht zum Charakter. Was bedeutet nun Freiheit für die Opernfigur Carmen? Was sie wirklich sucht, sind Menschen, die sie akzeptieren und sie nehmen, wie sie ist. Ohne ihr Grenzen zu setzen, sie kontrollieren zu wollen oder sie zu verurteilen. Carmen richtet sich nur nach ihren Gefühlen und Wünschen, wobei es ihr aber nicht um eine Freiheit à la Ich mache, was immer ich will geht. Sondern: Carmen sucht nach den richtigen Menschen, bei denen sie ganz sie selbst sein und sich frei fühlen kann. Das ist Carmens Freiheit.



»LIEBE«

Elsa Dreisig (Micaëla): Liebt Micaëla Don José oder hält sie aufgrund eines gesellschaftlichen Drucks zu ihm, weil sie meint, das tun zu müssen? Eine sehr gute Frage! Ich denke, man kann beide Sichtweisen vertreten. Also: Es könnte eine richtige Liebe sein, eine lange, intensive Verbindung, eine echte Romanze. Aber es könnte natürlich auch sein, dass Don Josés Mutter hier hineinspielt und diese Verbindung will. Es ist ja eine seltsame Opernfigur, diese Mutter. Sie betritt nie die Bühne, aber ist doch immer irgendwie präsent. Vielleicht hat also Micaëla nicht die Kraft, sich dieser alten, vielleicht kranken und hilflosen Frau zu widersetzen und einfach »Nein« zu sagen. Mit anderen Worten: Die Liebe ist keine Entscheidung Micaëlas, sondern der Mutter. Und vielleicht geht es hier um das große Problem dieser Figur: Dass eine Verantwortung für andere auf ihren Schultern lastet. Micaëla fühlt sich womöglich nicht nur der Mutter verpflichtet, sondern vor allem Don José. Sie denkt, dass sie ihn retten kann. Wenn man das so betrachtet, wird der Charakter Micaëlas komplex. Denn eigentlich könnte sie ja auch sagen: »Nein, dieser Mann ist mir zu gefährlich, zu schwierig, er wird mich nicht glücklich machen. Ich verlasse ihn.« Aber nein, sie wird Opfer solcher Gedanken wie: Vielleicht kann ich ihm helfen! Vielleicht kann ich den Unterschied machen! Es geht also um Verantwortlichkeit!

Aigul Akhmetshina (Carmen): Carmen will Liebe. Und sie möchte geliebt werden. Aber: Sie weiß nicht genau, was das eigentlich ist. Immer, wenn sie Leidenschaft, Spannung und Erregung spürt, in kurzen Liebesaffären wie mit Escamillo, denkt sie: Oh, ist das vielleicht Liebe? Und doch, trotz allem Suchen trifft sie niemals auf die wirkliche Erfüllung und Befriedigung. Da ist es ganz egal, wie viele Menschen – hauptsächlich Männer – sie um sich hat und wie viele sie bewundern, das echte Glück findet sie nie. Meistens ist es dann doch nur Leidenschaft. Ich denke, der Schlüssel zu diesem Mangel ist, dass sich Carmen selbst nicht liebt... Aber: Jedes Mal, wenn Carmen Ich liebe dich sagt, dann meint sie es auch so. Und sie behauptet nie, dass es für immer sein wird. Da ist sie ganz ehrlich. Und nicht zuletzt: Carmen ist eine Figur der Extreme: Wenn sie liebt, liebt sie. Wenn sie hasst, dann verbrennt sie alle Brücken hinter sich. Ein Vielleicht, das gibt es bei ihr nicht!



»STÄRKE«

Elsa Dreisig (Micaëla): Das ist für mich, wie gesagt, wichtig. Denn ich möchte nur starke Frauen spielen! Hier gibt es einen spannenden Widerspruch zwischen Micaëlas Charaktereigenschaften, der die Rolle erst attraktiv macht: Wäre sie einfach nur freundlich und süß, dann wäre es eine etwas schwache Person. Wäre sie nur selbstbezogen, ginge es nur um sie und ihr Selbstvertrauen, dann würde man keine Sympathie empfinden. Aber durch diese Gegensätze, durch Fragen wie Warum hat sie so Lust, diesen Don José zu retten? wird der Charakter vielschichtig – und das macht ihn stark. Unter Stärke verstehe ich aber nicht, dass alles perfekt und richtig ist, sondern, dass es eine Komplexität, Tiefe und Mehrdimensionalität gibt.

Aigul Akhmetshina (Carmen): Carmen ist offensichtlich sehr stark. Aber ich denke, diese Stärke des Charakters entspringt auch einer Angst. Denn sie musste immer um ihr Überleben kämpfen, um ihre Vorstellung vom Leben, um ihre Unabhängigkeit. Ihre Stärke beruht darauf, dass sie niemals aufgibt. Und jetzt komme ich wieder zu Carmen der Träumerin, die von einem besseren Leben ohne Schmuggelei, ohne ein Weglaufen vor der Polizei, ohne das stetige Herumziehen träumt, die aber diese Illusion niemals verwirklichen kann. Der Traum bringt sie dazu, stark zu bleiben und immer weiterzumachen. Eine Kämpferin zu sein und zu überleben. Wobei man in der Oper auch ein paar kleine Momente ihrer Verletzlichkeit sehen kann – denn sie ist ein Mensch, und zum Menschsein gehört beides:Stärke und Verletzlichkeit.



»ANGST«

Elsa Dreisig (Micaëla): Ja, das ist auch ein Begriff, der mit Micaëla zu tun hat. Wenn sie im dritten Akt zu den Schmugglern geht, dann spürt sie Furcht. Aber... vielleicht ist es nicht nur Angst, sondern auch Neugierde. Es ist ein Kitzel für etwas Neues, auch für diese Empfindung von Furcht. Es ist dieses: Uuh, und wenn ich diesen Weg nähme? Hier haben wir wieder zwei Pole, die den Charakter von Micaëla markieren, einerseits Angst, andererseits Freude am Entdecken. In ihrer Arie im dritten Akt entdeckt sie etwas Neues in sich, eine Seite, die sie nicht kennt und die sie vielleicht nicht kennen möchte. Aber vielleicht fühlt sie sich auch lebendig, und diese Lebendigkeit ist etwas, das sie sonst nicht oft erlebt – und das kann wiederum ein Gefühl von Angst mit sich bringen...

Aigul Akhmetshina (Carmen): Ich glaube, Carmen fürchtet, dass sie niemals Frieden finden wird – auch mit sich nicht, nie Akzeptanz, nie Menschen, die nicht versuchen, sie zu ändern und zu kontrollieren. Carmens Angst kommt wahrscheinlich aus früheren Traumata: Sie wurde ausgenützt und musste um ihr Überleben kämpfen. Und daraus entspringt dieses Immer-bereit-Sein, Immer-auf-der-Hut-Sein. Und eben die Furcht. Manches davon kennen vielleicht einige von uns oder kennen Menschen, die wie Carmen sind. Und das macht den Zauber der Oper aus – dass wir auf der Bühne so viele Zustände, Lebenslagen, Gefühle erkennen, die es im täglichen Leben gibt und die uns immer umgeben.



»TREUE«

Elsa Dreisig (Micaëla): Micaëla hat es nicht leicht, weil es dieses Klischeebild der sehr süßen, sehr netten, sehr treuen Figur gibt. Aber ihre Treue kann weit über diese Stereotypen hinausreichen. Zunächst einmal: Sie ist sich selbst treu, vertraut auf sich selbst, indem sie es wagt, an diesen erschreckenden Ort der Schmuggler zu gehen, um Don José zu treffen. Ihre Treue zu sich selbst, ihre Wertschätzung ihrer selbst merkt man auch daran, dass sie sich ernst nimmt. Sie denkt nicht: Ich bin nichts, ich habe nichts. Sondern das Gegenteil: Ich komme hierher, weil ich etwas zu sagen habe und bewirken will. Ihre Treue zeigt sich auch in ihrem Glauben an Gott, dem sie vertraut und an den sie sich hält. Micaëlas Treue ist also sehr stark, vieles umfassend und weit mehr als dieses Bild einer braven, schüchternen jungen Frau.

Aigul Akhmetshina (Carmen): Carmen ist sich selbst treu. Absolut. Aber nur sich selbst, weil sie nur sich selbst traut. Wobei... Sie sucht jemanden, der genauso stark ist wie sie, mit dem Leben umgehen kann, der nicht über sie bestimmen will und nicht von ihr abhängt. Wenn sie den hat: Dann wird sie für diese Person einstehen, so wie sie für ihre Gruppe – Mercédès, Frasquita, Dancaïro und Remendado – einsteht. Für diese Leute ist sie bereit zu kämpfen. Das hat mit Verantwortlichkeit zu tun, und auch mit Treue. Aber worum geht es denn eigentlich wirklich? Don José läuft vor seiner Mutter davon und trifft auf eine Frau, die auf ihn aufregend wirkt. Und die anders ist als seine bisherige Welt. Also folgt er ihr. Und Carmen wiederum denkt sich: Vielleicht wird dieser Mann, José, meine Probleme lösen. Wobei es ihr letztlich gar nicht um die Realität, sondern nur um den Glauben an etwas geht: Den Glauben, dass Don José ihr immer und vorbehaltlos folgen wird. Ihr dabei aber die Freiheit lässt. Wenn sie sagt: »Lass uns gehen«, dann erwartet sie gar nicht, dass er mitkommt. Sie will nur ihren Traum fortsetzen, der lautet: Ja, wir beide, wir werden irgendwann zusammen weglaufen. Es geht darum, dass er ihren Traum unterstützt. Denn letztlich ist sie eine große Träumerin, sie träumt von einem anderen, einem bes- seren Leben.

GEORGES BIZET

CARMEN

5./ 7./ 10. SEPTEMBER

Musikalische Leitung PIER GIORGIO MORANDI
Inszenierung CALIXTO BIEITO

Mit AIGUL AKHMETSHINA / ELSA DREISIG / VITTORIO GRIGOLO / ERWIN SCHROTT /
ILEANA TONCA / ISABEL SIGNORET ILJA KAZAKOV / MARTIN HÄSSLER /
LUKAS SCHMIDT / JUSUNG GABRIEL PARK