Boaz Daniel im Porträt

Nahezu täglich fuhr Boaz Daniel in den 90er-Jahren mit der Straßenbahnlinie 62 oder 65 von seiner Wohnung bis zum Karlsplatz, um dann zu Fuß zur Gesangsstunde ins Konservatorium in der Johannesgasse weiterzugehen. Und jedes Mal kam er auf diesem Weg an der Wiener Staatsoper vorbei. Hätte ihm damals jemand gesagt, dass er sein erstes Fixengagement außerhalb seiner Heimatstadt Tel Aviv hier an diesem Haus erhalten würde, Boaz Daniel hätte dem Betreffenden freundlich, aber doch, ins Gesicht gelacht. „Meine Vorstellungen von der Zukunft sahen folgendermaßen aus“, erklärt der Bariton rückblickend: „ Jetzt studiere ich einmal hier in Wien zu Ende und dann beginne ich an kleineren und mittleren Häusern meine Vorsingrunde, um dann irgendwo unter Vertrag genommen zu werden. An die Wiener Staatsoper dachte ich nicht einmal im Traum.“ Nun entsprechen Zukunftspläne in den seltensten Fällen der Realität. Im Falle Boaz Daniels führte die Realität den Dirigenten Stefan Soltesz in eine Konservatoriumsaufführung von Carl Orffs Kluge in der auch Daniel mitwirkte. Offenbar begeistert, gab Soltesz dem ehemaligen Direktor Ioan Holender, der einen Bariton für das Ensemble suchte, einen entsprechenden Hinweis, was zur Folge hatte, dass eines Tages Elisabeth Sobotka, sie war damals noch Betriebsdirektorin der Staatsoper, anrief und Daniel zu einem Vorsingen einlud. „Ich war nach diesem Telefonat fassungslos und brachte drei Tage lang fast nichts hinunter“, erinnert sich Boaz Daniel. „Das Vorsingen selbst war meiner Meinung nach nicht wirklich gut, aber dann dennoch gut genug, um mir eine Chance zu geben.“ Diese Chance hatte Daniel bekanntlich genutzt und sich zunächst mit vielen kleinen, aber dann immer größeren Partien verdient gemacht. Eine Schlüsselvorstellung war für ihn mit Sicherheit die Premiere von Simon Boccanegra im Jahre 2002, bei der er den Erzschurken Paolo gab. „Ich hatte davor schon einige mittelgroße Rollen in Repertoirevorstellungen gesungen, aber der Paolo war die erste mittelgroße Rolle in einer Neuproduktion, in einer Neuproduktion mit tollen Kollegen, wie Thomas Hampson als Simon Boccanegra und Ferruccio Furlanetto als Fiesco und Daniele Gatti, von dem ich viel lernen durfte, am Pult.“

Mittlerweile singt Boaz Daniel nicht nur an der Wiener Staatsoper, sondern weltweit, und nicht nur mittlere Rollen, sondern auch erstes Fach, wobei sich vieles wie durch Zufall zu fügen scheint. „Es ist ja beileibe nicht so, dass man selbst eine bestimmte Richtung in der Entwicklung anstrebt, zumindest ist dies bei mir nicht der Fall“, so Boaz Daniel. „Ich habe beispielsweise in der vergangenen Spielzeit hier im Zuge der Ring-Aufführungen zum ersten Mal mit Simon Rattle zusammengearbeitet. Wenig später bot er mir eine unbekannte, aber schöne Oper von de Falla an: El retablo del Maese Pedro. Mit den Berliner Philharmonikern. So etwas passiert, wenn man es passieren lässt.“

Apropos passieren: Dass Boaz Daniel überhaupt Sänger wurde ist gewissermaßen auch passiert. Denn geplant war dieser Beruf überhaupt nicht, obwohl – oder vielleicht gerade weil – die Mutter Opernsängerin war und der Vater ein gefragter Bratschist. Zwar hatte Daniel sehr bald seine Leidenschaft zur Musik realisiert, aber seinen Eltern „geglaubt“, die gemeint hatten, „dass es besser wäre die Musik als Hobby zu belassen und etwas Vernünftiges als Beruf zu wählen.“ So wurde er  Computerfachmann, der aber nach und nach das Interesse an der EDV verlor und sich schließlich mit 23 Jahren die Frage stellte: „Was kann ich in diesem Alter auf dem Musiksektor überhaupt noch beginnen? Für ein Klavierstudium ist es zu spät, für die Geige ist es zu spät.“ Nun, Daniel entdeckte, dass er eine gute Stimme besitzt (in der Schule hatte er das Chorsingen stets geschwänzt), und entschloss sich, die letzte Möglichkeit, die sich ihm auf diesem Gebiet bot, jene des Sängerberufes, zu ergreifen. Auf Anraten von Anat Efraty studierte er dann bei Walter Berry am bereits erwähnten Konservatorium. „Als ich Wien zum ersten Mal sah, war ich beeindruckt von der Schönheit der Stadt und dachte mir: Hier könnte ich leben – und dabei ist es bis heute geblieben.“

Ob er sich noch ganz grundsätzlich, die Musik genießend, als Zuschauer in eine Opernvorstellung setzen kann? Schließlich weiß er als Profi ständig, was der oder die Betreffende auf der Bühne richtig oder falsch macht und warum er oder sie es genau so macht und nicht anders. „Natürlich kann ich eine Aufführung genießen – und was das Feststellen von etwaigen Fehlern betrifft – das tut eine große Anzahl an Nichtsängern ebenfalls ständig. Man würde als Außenstehender ja gar nicht glauben, wie viele gute Ratschläge, durchaus auch stimmtechnischer Natur, man regelmäßig von Opernfans erhält.“

Aktuell singt Boaz Daniel an der Wiener Staatsoper im Februar zum ersten Mal den Lescaut in Massenets Manon – den Puccini-Lescaut sang er hier schon vor elf Jahren, bei der Premiere von Manon Lescaut – und den Tusenbach in der Staatsopernerstaufführung von Péter Eötvös’ Tri Sestri. „Es ist merkwürdig, in den ersten Jahren hatte ich praktisch überhaupt keinen Kontakt zur zeitgenössischen Musik. Das jüngste was ich sang war Richard Strauss und Puccini. Und plötzlich, seit drei Jahren, singe ich einen Schönberg nach dem anderen, Zimmermanns Soldaten und jetzt eben Péter Eötvös’ Tri Sestri. Übrigens ein wunderbares Werk: Ich liebe die Vorlage, also das Tschechow-Stück, und ich finde die Oper höchst aufregend, denn Eötvös erzählt die Geschichte nicht einfach linear, sondern in mehreren Sequenzen, aus unterschiedlichen Gesichtspunkten. Und dazu kommt noch die phantastische Musik!“

Andreas Láng