Aus Leid erwächst Erkenntnis

Zur Entspannung liest er, so erzählt Thomas Johannes Mayer, Nietzsche. Und zu Nietzsche hat er, vor rund 30 Jahren, seine Diplomarbeit geschrieben. Kein Wunder also, dass Mayer, der sich mit der griechischen Antike wie mit Zen-Buddhismus ausführlich auseinandergesetzt hat, sich mit Freuden dem Orest von Manfred Trojahn zuwandte. Ist doch der Komponist auch ein großer „Nietzscheianer“. Oliver Láng bat den Sänger zum Interview.

Herr Mayer, als wir uns eben in der Kantine begegneten, kamen Sie schnell zu der Frage: Sind wir nicht alle ein wenig Orest? Also: Sind wir alle Orest?
Mayer: Das ist natürlich die Frage! Zumindest aber geht uns das alle an! Aischylos, der den Orest-Stoff als erster aufs antike Theater brachte, war ja auch der Verfasser des Gefesselten Prometheus. Und dieser Prometheus ist unser Vorfahre im mythologischen Sinne: er ist der, der sich gegen die Göttergewalt wehrt, den Menschen das Feuer bringt und auch die Erkenntnis. Er ist jener, über den Goethe sagte: „Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde / Ein Geschlecht, das mir gleich sei / Zu leiden, zu weinen / Zu genießen und zu freuen sich / Und dein nicht zu achten / Wie ich!“ Das entspricht übrigens dem Ende der Oper Orest, so wie Trojahn sie geschrieben hat. Orest befreit sich von Apollo.

Orests Problem in der griechischen Antike ist, dass er als Sohn seinen Vater rächen muss. Er wird also unschuldig schuldig.
Mayer: Aus griechischer Sicht war der Schuldbegriff, wie wir ihn kennen, anders ausgestaltet. Es existierte ein anderes Moral- und Rechtsverständnis. Doch der innere Konflikt bleibt für Orest bestehen, egal, ob er nach unserem oder damaligem Verständnis schuldig war oder nicht. Er ist zwischen Liebe und Hass gefangen, er hat seinen Vater geliebt und musste, um Gerechtigkeit zu erlangen, seine Mutter töten. Die er auch liebt. In diesem Spannungsfeld lebt er. Es geht nicht nur um Schuld. Orest muss sich zwischen Liebe und Recht entscheiden – und in dieser Entscheidung verliert er sich.

Also auch ein psychologisches Problem.
Mayer: Ja, die antiken Griechen konnten das unglaublich gut, psychologische Motive, die uns alle bewegen, eindrücklich zu erfassen. Sie sind ja die Urväter der modernen Psychologie. Übertragen bedeutet es doch: Wir müssen unsere Eltern sterben lassen, um zu dem zu werden, was wir sind. Für mich hat Trojahn, sowohl was den Text als auch die Musik anbelangt, das wunderbar in sein Werk eingearbeitet. Die Musik ist ja zum Teil wie aus einem Psychothriller. Trojahn arbeitet mit subtilen Mitteln aus dem Unterbewussten, mit Motiven, die uns vertraut vorkommen. Ich spüre auch Gustav Mahlers dritte Symphonie darin – „Oh Mensch! Gib Acht!“ –, die ja einen Text aus Nietzsches Zarathustra verwendet. Die Musik Trojahns hat auch niederschmetternde Kraft – und doch dringt aus diesem tiefen Abgrund ein Lichtstrahl zum Himmel. Aus dem Schrecken, aus dem Leid erwächst die Erkenntnis, dass es keinen Sinn hat, sich weiter zu martern. Jeder von uns hat sein Päckchen zu tragen, sein Leid aus der Vergangenheit und es nützt nichts, sich das laufend und immer wieder zu vergegenwärtigen. Er reicht, wenn man aus diesem Prozess des Reflektierens zu einer Erkenntnis kommt. Und selbst das reicht nicht, ich brauche das Rauschhafte, das Ja-Sagen zum Leben. Ich muss das Leid überwinden, indem ich es annehme. Nicht, indem ich weglaufe oder es negiere. Der Schlusssatz von Orest lautet: „Du alter Gott, du brauchst die Angst der Erstarrten.“ Eine Abwendung also von der Angst.

Aber Orest muss diesen Prozess durchlaufen? Es gibt keine Abkürzung?
Mayer: Ja, wenn er sich ein Leben lang vor den großen Fragen drückt und die Augen verschließt, nimmt das kein gutes Ende. Man kann nicht immer vor den wichtigen Fragen weglaufen.

Orest kann das nur durch seine Ratio lösen?
Mayer: Nein, nicht nur durch den Verstand. Trojahn hat das genialisch gezeigt durch die Einführung von Apollo und Dionysos, die nur scheinbare Gegensätze sind. Einmal der Traum, Apollo, der Zerstörer des Materiellen, der Todbringer und auf der anderen Seite Dionysos, der Lebensbejaher, der Rauschhafte, der durch den Wahn zur Erkenntnis führt. Wie heißt es bei Sachs in den Meistersingern: „Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgetan / all Dichtkunst und Poeterei / ist nichts als Wahrtraumdeuterei“.

Das Ende der Oper ist für Sie positiv?
Mayer: Absolut positiv, die Trauer ist nur scheinbar. Der Text ist ganz klar Prometheus: ,Alter Gott, ich folge dir nicht mehr.‘ Wobei ich nicht glaube, dass Orest ab diesem Moment gänzlich angstfrei ist. Es ist ein wiederkehrender Prozess.

Wieweit braucht es Hermione, ihren heilenden Blick?
Mayer: Der Mensch, der die Erkenntnis errungen hat, will auch nicht alleine sein. Orest kann sie ansehen, weil sie die Unschuld in sich trägt. Ohne zu richten, ohne zu urteilen. Sie sagt: Brauchst du das wirklich? Musst du wirklich diesen Weg gehen? Den Mord? Das Blut?

Ist Orest in seiner Unterordnung unter Apollo und Elektra ein Schwächling?
Mayer: Er ist genauso schwach wie er stark ist. Es ist diese Ambivalenz, dass man nur durch stärkstes Leiden zu höchstem Glück gelangen kann. Es gibt das Leiden, aber man kann es auch aus sich heraus überwinden.

In ihrem Rachewahn ist Elektra die Konsequentere, oder die Verbohrtere?
Mayer: Sie ist nur stark. Aber es bringt ihr nichts, sie verändert sich ja nicht. Sie bleibt im apollinischen Weltbild verfangen, will alles umbringen, was ihr nicht entspricht. „Alles ausjäten“, wie sie sagt. Das reicht ins nationalsozialistische Weltbild.

Aber Orest unterwirft sich dem ja eine lange Zeit.
Mayer: Weil er das nicht kapiert. Es wird ihm erst nach und nach bewusst, dass er einen anderen reflektorischen Ansatz hat. Weil er, da er so lange weg war, nicht so massiv von Klytämnestra geprägt ist. Das psychologische Trauma, unter dem Elektra leidet, betrifft ihn nicht so stark.

Für das antike griechische Theater ging es um Katharsis und einen politischen, gesellschaftlichen Diskurs auf dem Theater. Worum geht es Thomas Johannes Mayer im Orest?
Mayer: Trojahn schreibt auf der ersten Seite der Partitur: „Für Dietlind Konold, mit dem Versprechen auf eine Komödie“. Wie sagt Nietzsche: „Lernt mir das Lachen!“ Ich will trotz aller Tragik das Positive zum Ausdruck bringen. Am liebsten würde ich das Theater tanzend verlassen…