Auf der Suche nach einem Ganzen
Im Grunde war er bereits an allen großen Opernhäusern zu Gast: An der New Yorker Met (mehr als 270mal!), an der Scala, am Royal Opera House Covent Garden, in Paris, Chicago. Nur die Wiener Staatsoper fehlt noch. Diese Lücke wird nun im September geschlossen: James Conlon, unter anderem derzeit Musikdirektor der Los Angeles Opera, debütiert im September erstmals im Haus am Ring – mit Chowanschtschina, einem Werk, das er bereits in unterschiedlichen Produktionen an der Met, der Opéra de Paris, beim Maggio Musicale Fiorentino und am Mariinskij-Theater geleitet hat.
Mit der Chowanschtschina werden Sie diesen September an der Wiener Staatsoper debütieren. Ist ein solcher Debüt-Moment etwas unvergessliches, wie ein erster Kuss? Oder aber nur ein Abend wie andere?
James Conlon: Ein solches Debüt ist für mich ein ganz besonderer Augenblick. Und mich verbindet mit Chowanschtschina, das ich als ein herausragendes Meisterwerk ansehe, eine tiefe Liebesbeziehung. Als Dominique Meyer mich einlud, dieses Werk hier zu leiten, war ich in gleichen Maßen geehrt und beglückt. Ausschlaggebend war für das Debüt auch der Reiz, gerade dieses Stück zu dirigieren. Es ist kein „populäres“ Werk wie Boris Godunow, es wird nicht so häufig gespielt, aber für mich ist Chowanschtschina, wenn auch ganz unterschiedlich, ebenso kraftvoll.
Die Staatsoper spielt die von Schostakowitsch fertiggestellte Fassung des Werkes. Bevorzugen auch Sie diese?
James Conlon: Mussorgski arbeitete und rang zehn Jahre lang an und mit diesem Werk (das man vielleicht gar nicht Oper nennen sollte), ohne dieses letztendlich zu beenden bzw. vollständig zu orchestrieren. Daher gibt es, wenn man Chowanschtschina spielt, im Grunde zwei Alternativen: Die Version von Nicolai Rimski-Korsakow und die Orchestrierung von Dmitri Schostakowitsch. Ich unterscheide bewusst zwischen den Wörtern Version (darunter ist umschreiben, kürzen und glätten dessen, was Rimski-Korsakow und mancher seiner Zeitgenossen als raue Kanten ansahen, gemeint) und Orchestrierung, die von Schostakowitsch treu zur Originalpartitur geschaffen wurde, eine Partitur, die voller unkonventioneller Harmonien und Formen ist. Ich bin ein absoluter Anwalt der Schostakowitsch-Fassung, die Mussorgskis Komposition so genau und getreu wie nur möglich präsentiert und den rauen Charakter des Originals beibehält.
Können Sie sich noch an Ihren Erstkontakt mit Chowanschtschina erinnern?
James Conlon: Meine Liebe zu Mussorgski reicht sehr weit zurück: Ich war 14 Jahre alt als ich zum ersten Mal Boris Godunow erlebte. Abgesehen davon hatte ich generell ein frühes Interesse an der russischen Musik und, bis zu einem gewissen Grad, an der russischen Literatur. Weiters gab es zu dieser Zeit einen starken russischen Einfluss in Amerika, besonders in New York, wo ich geboren und aufgewachsen bin und auch an der Juilliard School, an der ich später studierte. Was aber Chowanschtschina betrifft, so muss ich sagen, dass ich mich, das Vorspiel ausgenommen, bis zu meinen späten 20ern nicht wirklich mit dem Werk beschäftigte. Erst dann, auf das Drängen von Boris Christoff hin, mit dem ich damals arbeitete, sah ich es mir genauer an. Er meinte, dass es womöglich größer als Boris Godunow wäre und zu Unrecht vernachlässigt. So entdeckte ich das Werk für mich selbst. Und nun stimme ich mit ihm überein …
Und Ihr damaliger erster Eindruck?
James Conlon: Mein erster Eindruck war, dass das Werk weniger leicht zugänglich ist, aber sich die Geheimnisse von Chowanschtschina einem durch wiederholtes Studieren und Spielen preisgeben. Durch das oftmalige Dirigieren ist für mich die gesamte dramatische Kraft des Stücks offenbar geworden.
Gerade dieses Nicht-so-leicht-Zugängliche des Werkes führt dazu, dass Chowanschtschina, wie Sie sagten, weniger populär ist. Obwohl praktisch jeder Hörer nach einer Aufführung beeindruckt ist.
James Conlon: Ich stimme da mit Ihnen überein, dass Chowanschtschina in einem gewissen Maße etwas für Insider ist, wie etwa Simon Boccanegra. Die frühe Aufführungsgeschichte war nicht eben glücklich, was mit mehreren Aspekten zu tun hat. Erstens vollendete Mussorgski das Werk nicht. Zweitens war es sui generis, es fiel in keine Opern-Kategorie, was wiederum dazu führte, dass die meisten Theater abgeneigt waren, es aufzuführen. Drittens: Sein wucherndes politisches/historisches Gewebe entsprach eher dem Typus eines epischen Theaters, das bis heute schwer zu präsentieren ist. Weiters hat es, im Gegensatz zu Boris Godunow, keinen identifizierbaren Protagonisten (obgleich der wahre Protagonist in beiden Opern das Volk ist) und auch keinen Künstler wie Fjodor Schaljapin, der sich für das neue Werk einsetzte. Fünftens: Das Sujet ist Geschichte, mit einem großen „G“ geschrieben. Es ist weniger ein Drama über Individuen – obgleich sie klar gezeichnet werden. Dazu kommt, dass die Rezeption von Chowanschtschina außerhalb von Russland problematisch ist, da nur wenige ein Wissen über den historischen Kontext haben und Mussorgski diesen Kontext, wenn auch mit gelegentlicher Vernachlässigung der historischen Genauigkeit, behandelt. Und zuletzt: Es gibt keine signifikante Liebesgeschichte, und dort, wo es sie gibt, ist sie einigermaßen unkonventionell.
Und dennoch fasziniert das Werk!
James Conlon: Ja, all diesen Schwierigkeiten zum Trotz: Die Tiefgründigkeit der Musik, die unterschiedlichen musikalischen Farben von Mystizismus, Politik, Gewalt und Eleganz, die Beschreibung der verschiedenen gesellschaftlichen Klassen sind gleichermaßen einzigartig wie fesselnd.
In dieser Breite der Gestaltungs- und Farbenpalette liegt auch die Herausforderung für Sie als Dirigent?
James Conlon: Im Hervorbringen dieser Farben, sowohl im Orchester als auch auf der Bühne. Und darin, die Gangart dieses langes Werkes mit vorwiegend langsamer Musik so zu wählen und zu gestalten, dass der zum größten Teil nicht-lineare Charakter der Dramaturgie dennoch ein kohärentes Ganzes ergibt.
Und gibt es in diesem kohärenten Ganzen einen Abschnitt, der Sie stets aufs Neue am meisten berührt?
James Conlon: Es wäre schwierig für mich eine Szene, eine Passage oder einen Moment als Favoriten zu nennen. Aber es gibt zwei Arten der Musik, die mich am meisten bewegen. Die spirituelle Musik Dossifeis und der Altgläubigen und die zutiefst expressive Musik des leidenden Russlands, wie in Schaklowitys Monolog, dem Vorspiel oder Chowanskis Abschied.
Das Gespräch führte Oliver Láng
Chowanschtschina
20., 24., 27. und 30. September