© Wiener Staatsoper GmbH / Michael Pöhn

Auf der Suche nach dem Glockenklang

Sich im Rahmen einer Parsifal-Neuproduktion mit der Suche nach dem perfekten Glockenklang zu beschäftigen, gehört zur Tradition der musikalischen Aufführungspraxis – und das seit der Erstaufführung des Werkes. Richard Wagner selbst ist auf dem Weg der Findung und Umsetzung seiner eigenen Klangvision weit gegangen, ist aber der Nachwelt eine tragfähige und für alle Theater einsetzbare Lösung schuldig geblieben! In der Partitur notiert er Glocken „Auf dem Theater“ und gibt exakte Tonhöhen an. Und damit fangen die Herausforderungen an. Die von Wagner notierte Tonhöhe würde so große Glocken erfordern, dass sie – sofern sie überhaupt existieren – in kein Opernhaus passen. Beispielsweise ist die Pummerin im Wiener Stephansdom Österreichs größte Glocke (20 Tonnen Gewicht!), ihre Tonhöhe C (der „Schlagton“) entspricht der höchsten, kleinsten Glocke der vier notierten Töne im Parsifal. Der tiefste Parsifal-Ton ist übrigens ein Kontra-E, ca. 42 Hz! Nur am Rande: Subschwingungen einer Glocke mit dem angenommenen Schlagton von Kontra-E landen sogar im unhörbaren Bereich. Nicht viel anders wäre der Fall, wenn man Röhrenglocken verwendete: auch diese hätten Ausmaße, die jedes Opernhaus sprengten.

Was tat Wagner?
Für die Parsifal-Uraufführung ließ sich der Komponist von der Bayreuther Klaviermanufaktur Steingräber & Söhne ein eigenes Instrument bauen, eine Art Spezialklavier, das nur vier Töne hat: Die benötigten Noten C – G – A – E. Über vier (mit der Faust gespielten) Tasten wurden jeweils mehrere Bassseiten mit Hämmern angeschlagen, was einen glockenhaften Klang erzeugte. Dieser ist allerdings, in Mischung mit dem Orchester, mitunter nicht stark genug, um auch im Fortissimo zu überzeugen. Man sieht: Echte Glocken erklangen bereits 1882 im Bayreuther Festspielhaus jedenfalls nicht. Doch das Spezialklavier kam immer wieder zum Einsatz, etwa bei Sir Georg Soltis Parsifal-Einspielung.

Man sucht also in Opernhäusern (wie auch am Grünen Hügel) unentwegt nach neuen Lösungen, um die Glocken-Frage in den Griff zu bekommen. Es ist lohnenswert, sich etwa auf YouTube die zahlreichen Sonderkonstruktionen anzuhören (und anzuschauen!), die Künstler im Lauf der letzten Jahrzehnte entwickelt haben.

Was ist an diesem Thema so kompliziert?
Es gibt physikalische, ästhetische, vor allem aufführungspraktische Fragen: Die physikalischen haben wir schon erwähnt – die Glockengröße. Dazu jene der Ästhetik: Tontechnisch gesprochen kann man sich zwischen geräuschhaften Klangkörpern und solchen mit ausgedünnter, harmonischer Obertonstruktur entscheiden, dazu kommt noch die Art des Anschlages. Die geräuschhaften Glocken mit sehr ausgeprägten Sub- und Obertonstrukturen klingen interessant und voluminös, die anderen eher zart, uninspirierend und lösen daher nicht das Versprechen großer Gralsburg-Glocken ein. Diese Vorab-Bewertung der Klangästhetik muss man aber relativieren, sobald obertonreiche Glockenklänge in Verbindung mit Orchester erklingen. Die empfundene Tonhöhe einer Glocke ist nämlich ein sogenannter „Residualton“ – das heißt, er entsteht beim Hörer aufgrund bestimmter Zusammensetzungen! Wenn also spektrale Anteile des Glockentones vom Orchester verdeckt werden, entsteht ein ganz anderer Höreindruck als bei dem alleinstehenden Glockenklang; es kann sogar die empfundene Tonhöhe beeinflusst werden bzw. die Stimmung falsch erscheinen. Viele Glocken klingen also solistisch gespielt gut, im Zusammenklang mit dem Orchester zumindest unpassend oder sogar falsch gestimmt. Ein komplexes, auch spannendes psychoakustisches Phänomen! Ein weiterer Aspekt ist die Dynamik: Wagner verlangt nicht nur eine Lautstärke, sondern ein Crescendo und Decrescendo. Zunächst erklingen die Glocken leise, ohne Orchester-Begleitung, später dann sehr laut, in Kombination mit einem Orchester-Fortissimo. Eine riesige Glocke, die in der Fortissimo-Stelle laut genug wäre, würde – zart angeschlagen – kaum ihren charakteristischen Klang entwickeln können – Glocken klingen nun einmal nur ab einer gewissen Anschlagsstärke.

Kann man nicht einfach eine Glocke elektronisch tiefer transponieren? 
Sicherlich ist das möglich, es löst aber das Problem nicht. Eine tief„gepichte“ Glocke ändert ihren Charakter. Und ehemalige Obertöne werden als neue intonationsbestimmende Töne empfunden, die Verstimmung und Inkompatibilität zum Orchester nimmt dadurch sogar noch wesentlich zu. Und wenn man Obertöne herausnimmt oder modifiziert verändert man wiederum den eigentlichen Glockenklang, das bedeutet: Das Ganze klingt nicht mehr nach einer Glocke. In der Geschichte der Tontechnik gab es viele interessante Entwicklungen und Ansätze, einen passenden Klang zu entwickeln: Beispielsweise findet man mitunter in Kellergeschoßen von Opernhäusern Hüllkurvengeneratoren für Tonbandmaschinen … Und natürlich gibt es im Synthesizer-Bereich viele Klänge, die in eine Variante einfließen können. Doch auch da existiert bisher nicht das Instrument oder die allumfassende Lösung, die alle gleichermaßen zufriedenstellt. Viele Dirigenten haben ausführlich experimentiert und sich eine eigene „Glocken-Mischung“ erstellen lassen: Etwa einen Mix aus solistisch spielenden Orchesterinstrumenten (ein Bayreuther Dirigent wählte Kontrabass, Flügel, Tamtam und Holzblasinstrumente), andere entschieden sich für eine Kombination aus Glocken und Orchesterinstrumenten, aus Glocken und synthetischen Klängen und so weiter. Bei den Salzburger Osterfestspielen 1980 verwendete Herbert von Karajan einen Klang aus einem Computer, in Wien in den 60er- Jahren wählte er eine Kombination aus Röhrenglocken auf der Hinterbühne und einem alten Klavier im Orchestergraben. Und immer schon tauschten Opernhäuser untereinander nicht nur Erfahrungen, sondern auch Glocken-Klänge aus, entwickeln sie weiter, mischen sie neu. Aber: Egal ob man mit echten Instrumenten arbeitet, mit Samples oder synthetischem Material: Man bewegt sich immer innerhalb von sich gegenseitig ausschließenden Parametern: Natürlich/artifiziell; groß/klein; ansprechend/komplex/musikalisch-kompatibel. Eine gangbare Variante stellt immer einen Kompromiss dar.

Die aktuelle Parsifal-Produktion
Es wurden zunächst alle verfügbaren Glocken, Röhrenglocken und glockenähnliche Gegenstände aufgezeichnet, angehört und analysiert, später kamen noch Röhren, Federn und anderes (wie zum Beispiel Teile eines Elektroherdes) dazu, natürlich auch Samples und Synthesizer. Hilfe kam von einem Sounddesigner, dem Komponisten, Musiker und Regisseur Thomas Richter. Dieser hat aus vielen Bausteinen einen Glockenklang erstellt, den wir in dieser Produktion nutzen. Ein, wie wir finden, sehr schönes Ergebnis. Natürlich bedeutet das nicht, dass wir den „heiligen Gral“ in Sachen Glocken gefunden haben. Die Suche wird weiter gehen. Und sicherlich wird sie noch viele Menschen und Künstler inspirieren und dabei spannende Lösungen hervorbringen ...

DI (FH) Athanasios Rovakis ist Cheftonmeister der Wiener Staatsoper
Thomas Lausmann ist musikalischer Studienleiter der Wiener Staatsoper