Auf dem höchsten Operngipfel

Zwei international gefragte und an der Wiener Staatsoper regelmäßig (auch in Verdi-Partien) zu hörende Baritone – und Österreichische Kammersänger – treffen im Jänner in einer Falstaff-Serie aufeinander: KS Carlos Álvarez und KS Simon Keenlyside (ein gemeinsames Auftreten der beiden in einer Staatsopernproduktion gab es bislang nur in zwei Nozze-Serien 2001/2002 im Theater an der Wien). In beiden Fällen handelt es sich diesmal um Rollendebüts im Haus am Ring, wobei KS Álvarez nun gewissermaßen die Seiten tauscht, und nach seinen bejubelten Ford-Auftritten vor 15 Jahren, die Titelrolle übernimmt.

Haben Verdi und Boito einen neuen Falstaff geschaffen, oder handelt es sich um die Shakespeare’sche Figur?
KS Simon Keenlyside: Verdi war ein Shakespeare-Fan und hat dessen Werke, als Basis für seine Opernnachschöpfungen, ins Italienische übertragen lassen. Demnach sind auch die Farben der Charaktere in Falstaff ganz shakespearehaft. Andererseits sind Oper und Schauspiel unterschiedliche Kunstgattungen. Und im Falle des Falstaff haben wir zusätzlich eine besondere Situation vor uns: Verdi befindet sich mit diesem revolutionär neuartigen Werk, seiner letzten Oper – die er bekanntlich zum eigenen Vergnügen geschrieben hat – auf dem höchstmöglichen Gipfel von dem er auf die restliche Opernwelt herabschauen kann. Mit anderen Worten: Inhaltlich und von den Farben her ist dieser Falstaff gänzlich Shakespeare, aber in puncto Gattung und Ausdrucksform haben wir etwas völlig anderes vor uns.

Umreißen wir zunächst die Falstaff-Figur? Ist er ein empathisch veranlagter Mensch?
KS Carlos Álvarez: Mit Sicherheit nicht.

Ist er ein Menschenkenner? Kann man ihn überhaupt als altersweise bezeichnen?
KS Carlos Álvarez: Seine Erfahrungen, die Beschwerlichkeiten des Lebens haben seinen Blickwinkel, seinen Horizont stark ausgeweitet und ihm eine große Urteilsfähigkeit in Bezug auf die Mitmenschen geschenkt. Was gegen eine Altersweisheit spricht: Er macht dieselben Fehlern, wie jene, die er – zu Recht – kritisiert.

Könnte man die Figur des Falstaff als altgewordenen Don Giovanni interpretieren?
KS Carlos Álvarez: Hm. Eigentlich kann ich dieser Idee wenig abgewinnen. Es stimmt schon, beide versuchen, die Gunst von Frauen zu gewinnen – aber ihre diesbezügliche Herangehensweise ist dann doch sehr unterschiedlich. Don Giovanni benützt seine Macht sowie die mit ihr verbundene gesellschaftliche und finanzielle Vorrangstellung – sofern er nicht überhaupt ganz schamlos als Betrüger auftritt. Falstaffs Methode hingegen basiert auf vollkommenen Fehleinschätzungen: weder ist sein Charme so unwiderstehlich wie er meint, noch sind seine Schliche so listig und undurchschaubar wie er hofft. Falstaff wähnt sich fast bis zum Schluss in sicherer Überlegenheit, ohne zu ahnen, dass er es mit Rivalen zu tun hat, die ihm in puncto Scharfsinn weit überlegen sind.

Keiner von uns will, dass jemand unserer Frau den Hof macht, auch sonst ist Falstaff ein Betrüger, Egoist, Egozentriker – trotzdem mag man ihn, warum?
KS Carlos Álvarez: Weil wir, auf eine gewisse Art und Weise, Menschen bewundern, die in der Lage sind, auszuführen wonach ihnen ist und Dinge zu sagen, die sie gerade meinen. Insbesondere wenn sie ihren Charme als bedrohliche Waffe einzusetzen gewillt sind.

Kommen wir nun zum Ford: Ist er eine komische oder eine bemitleidenswerte, tragische Figur?
KS Simon Keenlyside: Ford ist definitiv ein komischer Charakter. Man hat als Interpret auch nicht viel Spielraum, dies anders zu sehen, denn im Gegensatz zu Mozart hat Verdi mit seinen Charakteren sehr klare Typenbeschreibungen geliefert und den Kosmos durch die gesamtheit der Charaktere eines Stückes abgebildet. Man kann den Don Giovanni zum Beispiel aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten und interpretieren – alles wird sich durch die Partitur begründen lassen. Bei Verdi-Rollen ist die entsprechende Bandbreite viel geringer. Nannetta und Fenton sind beispielswiese Liebende, Ford ist ein komisches eifersüchtiges Zornbinkerl, der zum Schluss doch so etwas wie Empathie zeigt. Nicht mehr und nicht weniger.

Und warum hat Alice Ford einst geheiratet?
KS Simon Keenlyside: Keine Ahnung. Vielleicht war er hübsch, reich, aufstrebend, vielleicht war die Hochzeit arrangiert. Who knows? Dies zu wissen, macht keinen Unterschied in der Rollengestaltung – weil Verdi den Charakter, wie gesagt, sehr genau umrissen hat.

Falstaff bezeichnet sich als Salz für die Gesellschaft? Ist das nicht eine zu euphemistische Selbstbeschreibung? Könnte eine Gesellschaft existieren, die nur aus Falstaffen besteht?
KS Carlos Álvarez: Den alten Falstaff könnte man tatsächlich als einzigartig bezeichnen und zwar in Hinblick auf jedes einzelne Detail in seinem Leben – demnach und in letzter Konsequenz durchaus auch als „Salz“! Aber natürlich bietet „Salz“ allein keinen tragfähigen Grund. Wir nehmen das Leben gerade deshalb als interessante Herausforderung wahr, weil eben, nicht zuletzt durch die Mannigfaltigkeit der Menschen, Unterschiede vorhanden sind, die nebeneinander existieren und sich gegenseitig ausgleichen.

Die große Arie des Ford ist unter Anführungszeichen gesetzt: Sie klingt dramatisch ist aber ironisch verstanden. Was für einen Unterschied macht es für den Interpreten, ob die Musik meint was sie ausdrückt oder eben nur ein Als-ob abbildet?
KS Simon Keenlyside: Wenn man Komödie spielt, dann sollte man nicht das Lustige betonen, man muss vermeiden komisch sein zu wollen. Ich gebe den Ford möglichst ernst, befolge ganz die Vorgaben der Partitur – es gibt also kein augenzwinkerndes Beiseitetreten. Das Publikum wird dadurch den Kontrast zwischen dem Selbstverständnis der Figur und seine tatsächliche Rolle in der Geschichte und somit das Komische des Charakters besser wahrnehmen.

Beethoven hat Mozarts Così fan tutte aus moralischen Gründen nicht geschätzt – hätte er Verdis Falstaff gemocht?
KS Carlos Álvarez: In Così fan tutte verfolgen alle Charaktere im Prinzip das gleiche Ziel: Sie trachten danach, den persönlichen Vorteil wahrzunehmen, auf menschlich ernüchternde und bittere Art und Weise, was sich nicht mit dem moralischen Empfinden Beethovens vertrug. Die in der Schlussfuge von Verdis Falstaff verbalisierte Aussage „Tutto nel mondo è burla“ zielt hingegen in eine andere Richtung. Es geht um eine abgeklärte Weltsicht, die ja wohl per se nichts Unmoralisches beinhaltet.
KS Simon Keenlyside: Die meisten Opern transportieren doch irgendeine Moral, nur wird selten der Holzhammer benutzt. Traviata ist doch in höchstem Maße moralisch, wir haben bloß nicht das Gefühl auf der Schulbank zu sitzen und von einem Oberlehrer unterwiesen zu werden. Und im Falstaff findet man zahlreiche moralische Anspielungen, wie man besser leben, was man unterlassen sollte – aber diese sind liebevoll mehr oder weniger kaschiert.

Aber tötet die Aussage der Schlussfuge nicht jeden Idealismus ab, jedes Auflehnen gegen das Unrecht?
KS Carlos Álvarez: Müssen wir unsere Ideale vergessen, nur weil wir erkennen, dass das Leben unfair sein kann? Meine Antwort lautet: nein.
KS Simon Keenlyside: Wenn am Ende von Don Giovanni die Überlebenden an die Rampe treten und erklären, dass der Böse im Leben am Ende bestraft wird, so wissen alle im Publikum: Ganz so ist es in der Wirklichkeit leider nicht. Ist das Perdono des Grafen am Schluss von Nozze di Figaro ernst gemeint? Nun, wir wissen, dass Menschen im echten Leben selten von ihren Grundeigenschaften loskommen. Verdi unterstreicht im Falstaff, dass die Welt verrückt ist und wir die größten Narren sind, aber er meint auch: Nehmt das Leben wie es ist, denn letztlich ist es wunderbar. Ich persönlich möchte noch einen Vergleich ziehen: Das Leben ist wie ein großer Ballsaal, die Musik spielt, man hat zu tanzen und fliegt quer über das Parkett ohne aber die Tanzschritte zu kennen oder zu beherrschen.

Die Partie des Falstaff weist sehr viel Parlando auf, nur seine Arietta fällt diesbezüglich heraus. Warum mag Verdi ihm, dem Zentrum des Geschehens, keine durchgehende „eigene“ Musik gegeben haben?
KS Carlos Álvarez: Eine Lebensgeschichte wie jene von Falstaff, die auf sehr eigenwilligen moralischen Codes basiert sowie die ausführliche Beschreibung seiner unterschiedlichen Gemütsverfassungen verlangen nach einer überaus nuancenreichen Musik und vokalen Gestaltung: sehr lyrisch, aber kräftig, dicht und zur gleichen Zeit luftig-hell. Zudem formuliert Falstaff niemals Fragen, sondern stellt stets Behauptungen auf: all dem wird eher das Rezitativische als das Arienhafte gerecht.

Inwieweit ist das, was vom Interpreten des Falstaff verlangt wird, noch Verdi-Gesang im eigentlichen Sinn? Ist es blasphemisch, wenn man sagt, dass Falstaff vokal leichter ist als ein Rigoletto oder ein Jago?
KS Carlos Álvarez: Wir dürfen nicht vergessen, dass Verdi diesen Punkt in seiner Karriere, diese kompositorische Entwicklungsstufe mit der Umsetzung und Vervollkommnung der Idee einer Oper in ihrer reinsten, umfassendsten Form erreicht hat – Oper total, sozusagen: keine geschlossenen Musiknummern, ein einziger großer und eindrucksvoller szenischer und musikalischer Fluss … das erfordert aber zugleich einen sehr detailreichen Gesangsstil und, der großen Leistung dieser Adaption eines Shakespeare’schen Werkes gerecht werdend, einen großen Respekt und eine Wahrhaftigkeit in der Interpretation – mit anderen Worten: Verdi-Gesang. Wenn Sie nur die epischen und dramatischen Komponenten berücksichtigen, dann könnte man freilich davon sprechen, dass Rigoletto und Jago vokal schwerer sind als der Falstaff – das aber hieße, wesentliche Aspekte unberücksichtigt zu lassen.

Und wie sieht es diesbezüglich mit dem Ford aus? Wie belcantesk ist er zu singen?
KS Simon Keenlyside: Als ich jung war, sagte Cappuccilli einmal zu mir, dass man als Sänger eines nie vergessen darf: Prima la voce. Was er meinte, war: „Lege die gesamte dramatische Aktion in deine Stimme, spiele mit der Stimme Theater.“ Er hatte Recht – nichtsdestotrotz sollte man immer versuchen auf dem Atem zu bleiben, technisch gesund zu singen – schon deshalb, weil dadurch die gewünschten Effekte noch besser zur Geltung kommen. Ja, auch der Ford erfordert Belcanto in einem weiteren Sinne.

Ein Dirigent, der Tristan leiten möchte, muss schon eine gewisse Anzahl an Werken vorher gemacht haben? Welche Rollen im Laufe Ihrer Karriere sind im Rückblick gesehen essenziell gewesen, um heute einen Falstaff auf die Bühne stellen zu können?
KS Carlos Álvarez: Jede einzelne Rolle die ich verkörpern durfte, ehe ich die Möglichkeit des Falstaff ins Auge fassen konnte, hat mir geholfen: Verdi mit seinen eindrucksvollen Bariton-Charakteren, der Belcanto-Stil mit den hohen Anforderungen und der Verismo mit seiner großen dramatischen Intensität. Es erfordert das gesamte Leben (mit all seinen Konsequenzen), um beim Falstaff anzukommen: 30 Jahre Bühne…

Viele ehemalige Fords haben sp.ter Falstaff gesungen: Ist dies auch der Plan des Simon Keenlyside?
KS Simon Keenlyside: Ich habe oft darüber nachgedacht, aber weiß es wirklich nicht. Das Leben ist nicht lang genug, um alles zu machen, was man gerne umsetzen würde. Zurzeit bin ich glücklich, als Ford in dieser wunderbaren Oper mitwirken zu können. Falstaff – wer weiß? Andererseits: Man soll ja nichts ausschließen…

Das Gespräch führte Andreas Láng


Falstaff | Giuseppe Verdi
23., 25., 27,. 30. Jänner 2019
KARTEN & MEHR