An den Grenzen der Freiheit

»In der Titelrolle die hinreißend spielende Anna Goryachova: Mit feinherb abschattierter Tiefe, blitzblank kullernden Koloraturen und einer machtvollen, ins Metallische tendierenden Höhe«, so schrieb Stefan Musil in der Kronen-Zeitung über die Mezzosopranistin in der letzten Cenerentola-Serie im Jänner 2022. Nun steht Anna Goryachova, die als Olga in der vielgepriesenen Neuproduktion von Eugen Onegin in der vergangenen Spielzeit an der Staatsoper debütierte, wieder auf der Bühne: als Carmen! Im Vorfeld erzählt sie im Gespräch mit Oliver Láng über das Lebensumfeld der Titelrolle, den Druck der Tradition und die feine Grenze zwischen Egoismus und Freiheit.


Fangen wir mit einer einfachen wie schweren Frage an: Was macht Carmen zu Carmen? Warum ist diese Oper so ungemein populär?

Anna Goryachova: Ich denke, es ist die glückhafte Verbindung einer genialen Musik mit einer Geschichte, die allgemeingültige Themen verhandelt. Und da fällt mir zuallererst der Aspekt der Freiheit ein. Es ist eine innere, Carmen hält sie hoch und gibt sie für nichts auf der Welt auf. Das ist ein Moment, der uns alle anspricht, denn wer kann schon von sich sagen, immer so richtig frei zu sein? So ehrlich zu sein wie Carmen – und so wild?


Eine große Freiheit kann allerdings auch großen Egoismus bedeuten. Wer auf sich bezogen an keine Grenzen denken will, denkt womöglich auch nicht an andere.

Anna Goryachova: Das hängt natürlich immer davon ab, an welche Freiheit man denkt und wie sie ausgestaltet ist. Natürlich, wer Grenzen überschreitet und zur Gefahr für andere wird, der handelt egoistisch. Aber wenn es nur um die Freiheit der persönlichen Wahlmöglichkeit geht, wenn jemand von keiner anderen Person Besitz ergreift – dann ist die Freiheit ein Privileg. Es ist freilich immer schwer, hier eine exakte Linie zu ziehen: Wo geht die Freiheit in einen Egoismus über? Es ist oft ein Kompromiss. Ob sie an andere denkt? Hm, im Zentrum von Carmens Lebens steht Carmen. Was nicht bedeutet, dass sie sich nicht in andere einfühlen könnte, denn das liegt ihr sehr gut. Aber sie benützt dieses Wissen, um mit der Gefühlslage anderer zu spielen. Carmen ist zweifellos kein Mensch des großen Mitleids. So betrachtet, sehen wir natürlich ihren Egoismus.


Sie standen in Mozarts Don Giovanni als Donna Elvira und als Zerlina auf der Bühne. Entdecken Sie eine Verbindung zwischen der Titelfigur und Carmen? Sind die beiden wesensverwandt?

Anna Goryachova: Gute Frage. Viele sehen da ja eine Parallele, aber ich empfinde es nicht so. Denn die beiden haben ganz unterschiedliche Ausgangs- und Lebenslagen. Er ist adelig, hat ein bequemes Leben, genießt es, bei ihr hingegen geht es von Anfang an ums Überleben. Wir dürfen, wenn wir an Carmen denken, niemals die Umstände vergessen, in denen sie aufgewachsen ist und in denen sie lebt. Natürlich: Es gibt eine Freiheit, die beide vertreten. Aber ich sehe unterschiedliche Charaktere vor mir.


Sie sprachen über die Umstände, in denen Carmen lebt. In unserer aktuellen Produktion sieht man ja ein Kind, das vielleicht die nächste Carmen wird. Denken Sie manchmal darüber nach, welche Kindheit die von Ihnen verkörperte Figur hatte?

Anna Goryachova: Das ist ein ganz wichtiger Gedanke! Wir wissen doch, wie unser Elternhaus uns prägt und wie die Kindheit auf das gesamte Leben rückwirkt. Carmen, so habe ich es im Kopf, kommt aus einer Umgebung, die kriminell war, sie war von früh an eine Schmugglerin, wurde missbraucht.


Eine chancenlose Situation?

Anna Goryachova: Das ist eine sehr komplexe Diskussion, denn es gibt so viele Wege, über die ein Charakter ge- bildet und geformt wird. Und man hat immer eine Chance, jeder Tag stellt uns vor eine Wahl. Aber klar, sie wurde geprägt! Vielleicht fehlt ihr eine Person, die sie rettet. Vielleicht braucht es keine Rettung, weil sie mit ihrem Leben, so wie es jetzt gerade ist, zufrieden ist.


Sie ist also in ihrem Dasein gefestigt? Generell, nicht nur im Augenblick?

Anna Goryachova: Das denke ich schon. Sie kommt mir nicht wie eine Person vor, die große Konflikte in sich trägt. Selbst in dem Moment, in dem sie den Tod in den Karten liest, ändert sie sich nicht. Es ist vielleicht ein Moment des Schocks, aber sie bleibt, was sie ist. Schon alleine deshalb, weil sie an das Schicksal glaubt.


Ist es das, was sie in den Augen anderer Personen so attraktiv wirken lässt?

Anna Goryachova: Ich würde sagen, die anderen sind fasziniert von ihrer Freiheitsliebe. Aber auch von der Wildheit und der Sinnlichkeit, die sie in sich trägt. 


Was aber findet sie an Don José? Zumindest in der Oper ist er ja das Gegenteil von ihr.

Anna Goryachova: Vielleicht ist es seine Scheu, die ihr gefällt. Aber auch, dass er nicht sogleich auf sie reagiert. Das macht ihn interessant. Und sie beginnt ihr Spiel. Es ist ja für sie immer ein Spiel, auch wenn sie die Liebe immer ernst nimmt. Natürlich kommt dazu, dass sie auch in ihm ihr Schicksal spürt. Und wir müssen Carmen ja als eine Frau sehen, die sich »Warum nicht?« denkt, die die Sache leichtnimmt. Das erzählt uns ja die Musik. 


Sie denkt also nicht an die Zukunft, den weiteren Verlauf der Liebesgeschichte?

Anna Goryachova: Nein, Carmen lebt absolut für den Augenblick. Das große Nachdenken ist sicherlich nicht so das ihre. Was sie macht, macht sie im Heute, im Jetzt. Das ist es, was für sie zählt. 


Nun haben wir viel über Freiheiten gesprochen, wie sieht es mit der künstlerischen aus? Wie viel Raum lassen Sie sich an einem Opernabend, wie strikt halten Sie an Vorgaben fest?

Anna Goryachova: Der Freiraum ist für mich von elementarer Bedeutung! Insofern liebe ich die Improvisation, natürlich innerhalb vorgegebener Grenzen, denn das Inszenierungskonzept will einge- halten werden, und auch die Kolleginnen und Kollegen dürfen nicht darunter leiden. Aber dennoch: Carmen muss ein bisschen ein Hooligan sein, sonst ist es ja langweilig. Vielleicht gibt es Partien, die man nach einem gewissen Schema F spielen und singen kann – Carmen gehört definitiv nicht dazu. Man muss dieser Rolle ausreichend Raum geben. 


Ein Aspekt einer so populären Oper ist, dass viele die bekannten Melodien mitpfeifen können. Lastet dieses Wissen, das auch eine Erwartungshaltung in sich birgt, auf Ihnen?

Anna Goryachova: Natürlich kann man sich denken: »Oh Gott, was für eine Herausforderung! Wie viele große Sängerinnen haben diese Partie schon interpre- tiert!« Man kann sich aber auch denken: »Wie schön, dass ich das singen darf!« Und dann spürt man die Freude, die diese Partie einem bereitet. Es ist einfach ein magisches Werk, das einem immer etwas Neues schenkt, selbst wenn man es schon tausendmal gesungen hat. Und wenn man seine eigene Persönlichkeit in die Figur steckt, dann kann auch etwas unglaublich Beglückendes entstehen.

 

CARMEN
1. / 4. / 8. / 12. April 2022
Musikalische Leitung Alejo Pérez
Inszenierung Calixto Bieito
Mit u.a. Anna Goryachova, Vittorio Grigolo, Alexander Vinogradov, Olga Kulchynska