Am Stehplatz: Zubin Mehta

In den Jahren, in denen ich in Wien an der Akademie, also der heutigen Musikuniversität, studiert habe, war der Stehplatz der Wiener Staatsoper mein eigentliches Zuhause. Im Gegensatz zu den meisten anderen hatte ich keine bestimmte „örtliche“ Vorliebe, sondern stand einmal im Parterre, einmal am Balkon, dann wieder auf der Galerie, – wie es sich eben ergab, meistens mit einer Taschenpartitur und einer kleinen Taschenlampe bewaffnet. Und da ich den Stehplatz als Ausbildungsstätte auffasste, interessierte mich alles gleichermaßen: Das Musikalische wie das Szenische, das deutsche Repertoire wie das italienische oder slawische – und ganz wichtig – ich sah mir, wieder im Gegensatz zu manch anderen, immer die ganze Vorstellung an, nicht nur die Höhepunkte oder ausgewählte Arien. Und so wurde ich Zeuge vieler wunderbarer Aufführungen unter Herbert von Karajan oder Josef Krips oder Rudolf Moralt oder Dimitri Mitropoulos und wie die großen Pultgiganten damals alle hießen, erlebte unter den Sängerinnen und Sängern alles was zu dieser Zeit Rang und Namen hatte – man ging ja nicht nur in eine Vorstellung eines bestimmten Werkes, sondern gleich drei Mal, um nur ja jede Besetzungsvariation miterleben zu können. Selbstverständlich diskutierte man nach jeder Aufführung ausführlich und hitzig und emotionsgeladen über das Gehörte und Gesehene und selbstverständlich hatte ich kaum zu hoffen gewagt, selbst einmal „dort unten“ dirigieren zu dürfen. (Als es dann so weit war, sagte ich spaßhalber zu den Musikern: „Sehen Sie, es hat sich kaum etwas verändert, früher, als ich in die Wiener Staatsoper kam, bin ich am Stehplatz gestanden, und jetzt muss ich hier am Dirigentenpult schon wieder stehen.“)

Eine Aufführung ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: Walküre mit Hilde Konetzni als Sieglinde. Kaum war der Vorhang nach dem ersten Akt gefallen, hob eine Ovation an, die praktisch nicht enden wollte. Das komplette Publikum applaudierte die ganze Pause hindurch – 30 Minuten lang. Ein junger kanadischer Tenor gab an diesem Abend sein Hausdebüt als Siegmund und wähnte sich im Traum: Ständig musste er mit der Konetzni vor den Vorhang. Noch Jahre später sprach er mich auf diese durchklatschte Pause an – und ich konnte nur sagen: „Tja, das ist Wien.“ Dieser Tenor war übrigens niemand geringerer als Jon Vickers.

Da ich kaum bis gar keine Zeit hatte, mich stundenlang um eine Karte anzustellen, gab es nur zwei Möglichkeiten für mich auf den Stehplatz zu gelangen: Entweder ich bekam um zwei Schilling im Vorhinein eine Stehplatzkarte von der Akademie oder ich schlich mich an allen Billeteuren vorbei und war sozusagen ein „Schwarzseher und Schwarzhörer.“ Diesbezüglich muss ich dem Musikverein nachträglich mein großes Lob aussprechen – dort war es überhaupt kein Problem ohne Karte auf den Stehplatz zu gelangen, aber in der Wiener Staatsoper gab es einen einarmigen älteren Billeteur, der mich nahezu immer erwischt und hinausgejagt hat! Ich habe ihn gehasst. Später allerdings, als ich selbst an diesem Haus dirigieren durfte, wurde er mein größter Fan. Er war es auch, der mich nach einer Rheingold-Vorstellung, bei der ich zum ersten Mal ausgebuht wurde, tröstete. „Wissen’s“, kam er nach der Aufführung auf mich zugestolpert, „wissen’s, machen’s Ihna nix draus. Die, die gebuht ham, die san erst nach der Vorstellung in den Zuschauerraum eine gangan. Und nach den Buhs, haben’s dem Dirigenten X in einer Loge zugewunken, der hat des nämlich organisiert.“ Wie dem auch sei, unser anfangs gespanntes Verhältnis hatte sich zu einem quasi freundschaftlichen gewandelt.

Zubin Mehta