Am Stehplatz: Walter Herrmann
„Und da leben Sie noch?“ fragte mich ein junger Mann nach einer Veranstaltung im Haus Hofmannsthal, weil ich in meinem Vortrag erwähnt hatte, persönlich noch Legenden der Oper wie Gigli, Kiepura, Flagstad, Tagliabue oder Rossi- Lemeni gehört zu haben.
Meine Hörerlebnisse reichen aber nicht nur deshalb so weit zurück, weil ich inzwischen ein recht hohes Alter erreicht habe, sondern weil ich bereits als Elfjähriger der Oper verfallen war und den Großteil meiner Freizeit auf dem Stehplatz verbrachte. Ich bin – im wahrsten Sinn des Wortes – auf dem Stehplatz groß geworden.
Für eine Karte musste man sich in der Millöckergasse neben dem Papagenotor des Theaters an der Wien anstellen (oft schon ab den zeitlichen Nachmittagsstunden), denn die Staatsoper spielte von 1945-1955 wegen der Kriegsfolgen in den Ersatzquartieren des Theaters an der Wien und der Volksoper. Dann entschied man sich, ob man eine Karte für den 1., 2. oder 3. Rang wollte – ein Stehparterre gab es dort nicht. Meinen Stammplatz fand ich auf der linken Seite der höchsten Etage und ihn nahm ich gewissermaßen 1955 auch in die wiedererstandene Staatsoper mit: Galerie links, weil der Ton dort so prächtig in die Höhe steigt und weil man dort einen fast senkrechten Blick in den Orchestergraben genießt.
Das Stehplatzpublikum hatte sein eigenes Ambiente: Wir unterhielten uns über die Aufführungen der letzten Tage, führten „Schmäh“ und erledigten – sofern wir noch Gymnasiasten waren – im Stehen unsere Schulaufgaben. Von unseren Stehplatzkollegen schafften dann einige den ersehnten Sprung auf die Bühne, u.a. die späteren Kammersänger Waechter, Kmentt und Holecek. Der später gefürchtete Kritiker Karl Löbl war übrigens auch dabei. Eberhard Waechter hat immer – auch als Staatsoperndirektor – betont, dass „Stehplatzler“ ein Adelstitel sei.
Von Anfang an interessierte ich mich auch für Schallplatten (Schellacks natürlich, denn LP oder gar CD lagen ja noch in ferner Zukunft) von Sängern, die damals nicht in Wien sangen oder nicht mehr auf der Bühne standen, denn nur der Vergleich schärft das (Be)urteilungsvermögen. Die Tenöre standen im Mittelpunkt meines Interesses, so etwa Björling, Martinelli, Lauri-Volpi, Toscaninis Lieblingstenor Pertile oder der Wagnertenor Melchior.
Nach besonders spektakulären Aufführungen befragt, denke ich an das erste Wiener Auftreten der damals noch unbekannten Birgit Nilsson als Sieglinde, an Fidelio am 5. November 1955 bei der Wiedereröffnung der Staatsoper und wieder an Fidelio ein halbes Jahr später, als Karl Böhm als Operndirektor minutenlang ausgepfiffen wurde (damals hat man noch nicht gebuht und Pfeifen war kein Signal der Zustimmung, sondern das Gegenteil), an das spektakuläre Gastspiel der Mailänder Scala im Juni 1956 mit Callas, Di Stefano und Karajan, an den Skandal als die von Zeffirelli inszenierte und von Karajan dirigierte Bohème- Premiere nicht stattfinden konnte und das Publikum nach Hause geschickt werden musste, und noch sehr viel mehr …
Meine Frau war es, die den Anstoß gab, meine Opernerlebnisse und -erfahrungen in Form von Büchern und Vorträgen weiterzugeben. Ich griff den Vorschlag zögernd, aber gerne auf, wobei mir die Einführungsmatineen an unserer Staatsoper, in der Volksoper, im Theater an der Wien, an der Berliner Staatsoper sowie in Bayreuth, Salzburg und am Grazer Opernhaus besondere Freude bereiteten. Dabei entwickelten sich viele sehr bereichernde Bekanntschaften und sogar Freundschaften mit großen Künstlern (u.a. Welitsch, Nilsson, Reining, Roswaenge, Lorenz, Hotter, Taddei, Czerwenka). Neben meiner Familie und meiner Liebe zur Stadt Rom wurde die Welt der Oper zur Erfüllung meines Lebens. Dafür danke ich mit den Worten der Elsa von Brabant: „Es gibt ein Glück, das ohne Reu’.“
Prof. Dr. Walter Herrmann
Germanist und Historiker, Mag. et Dr. phil
Vielseitige pädagogische Tätigkeit in Österreich und Italien, ab 1980 Landesschulinspektor für AHS; zahlreiche in- und ausländische Auszeichnungen, darunter das Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst