© Johannes Ifkovits

Am Stehplatz: Piotr Beczala

Meine Wiener Stehplatzzeit liegt nun etwas mehr als 30 Jahre zurück… Es war im Jahr 1986, ich war ein junger Gesangsstudent, im ersten oder zweiten Semester und kam per Anhalter nach Wien, um ein wenig Geld zu verdienen. Ich half an einer Baustelle aus – eine harte Arbeit und überdies schlecht bezahlt. Als ich an einem Samstagabend über die Kärntnerstraße flanierte, sah ich überall Musiker stehen und spielen. Und ich dachte mir: Warum soll ich das nicht auch einmal probieren? Also suchte ich mir einen guten Platz und sang: Arien aus Opern und Operetten, Lieder, alles was mir in den Sinn kam. Bald hatte ich die Spielregeln, die es damals gab, begriffen – wann man wo stehen und singen darf, welche die (akustisch) guten Plätze sind und so weiter. Und im Gegensatz zur Baustelle war das Singen verhältnismäßig gut bezahlt, jedenfalls verdiente ich in anderthalb oder zwei Stunden mehr als zuvor in acht Stunden.
Und wie es eben so ist… durch Hörensagen erfuhr ich, dass man in der Wiener Staatsoper um wenig Geld Vorstellungen erleben kann und es diesen berühmten Stehplatz gibt. Also bin ich einfach hingegangen und habe mir eine Karte gekauft. Was für ein Eindruck! Alleine schon das Haus, das Foyer und die schöne Architektur, ich war beeindruckt und noch mehr als beeindruckt! Ich hatte einen Platz auf der Galerie und war schon vom Weg durch das Treppenhaus hingerissen. Und dann erst die Vorstellung! Man spielte Turandot, Éva Marton sang die Titelpartie – und ich kann mich bis heute an den Eindruck erinnern, den sie auf mich gemacht hat. Eine gewaltige Stimme! Wie die Schallwellen durch das Haus gegangen sind, bis hinauf zum Stehplatz, das war ein Erlebnis, wie ich es mir kaum vorstellen konnte. Also beschloss ich, am nächsten Tag gleich wieder auf den Stehplatz zu gehen und dann wieder und wieder. Und so sang ich am späten Nachmittag auf der Kärntnerstraße und ging dann, nach getaner Arbeit, in die Staatsoper und hörte mir eine Oper nach der anderen an. Fast jeden Tag, drei Wochen lang – und immer auf dem Galeriestehplatz, ich hatte ja keinen Anzug und traute mich nicht, mich im Parterre unter die Leute zu mischen.
Für mich war das aber nicht nur Vergnügen, sondern auch gleich eine Art Gesangsunterricht, denn als Student hat man ja mal dieses, mal jenes Problem mit der Stimme – und ich konnte mir in der Staatsoper anhören, wie die großen Stars ihre Technik einsetzen. Und wenn man manchmal gemerkt hat, dass auch einer dieser Stars am Ende des Abends etwas müde wird, dann war das für mich fast beruhigend – denn ich lernte, dass auch die ganz Großen nur Menschen sind…
Nach drei Wochen bin ich wieder nach Polen zurückgekehrt, ich war aber ein gänzlich neuer, anderer Mensch! All die Eindrücke, diese wunderbaren Sängerinnen und Sänger, diese Erlebnisse und Erfahrungen, ich war wie ausgewechselt. Und vielleicht regte sich in meinem Unterbewussten auch schon der Wunsch, einmal an diesem Haus zu singen. Jedenfalls kehrte ich später noch an den Stehplatz zurück und hörte unter anderem Così fan tutte mit Gösta Winbergh (immer haben mich schon die Tenöre besonders interessiert!) – und als musikalischer Leiter stand ein junger Dirigent am Pult: Christian Thielemann…
Viele Jahre später fand ich übrigens heraus, dass damals in diesem Biotop Stehplatz viele leidenschaftliche Opernbesucher gestanden sind, nur wenige Meter von mir entfernt, deren späterer Lebensweg sich mit meinem gekreuzt hat – mein ehemaliger Agent zum Beispiel war ein ganz großer Stehplatzler! Da merkt man erst, was für ein fantastischer Ort dieser Stehplatz doch ist, mit wie vielen Opernliebhabern, deren Herz an dem Haus und seinen Künstlern hängt. Und wenn ich mich heute verbeuge, dann werfe ich immer wieder auch einen Blick hinüber und erinnere mich an meine ersten Abende im Haus am Ring…