Am Stehplatz: Peter Marboe

Ob ich mich noch an mein erstes Stehplatzerlebnis erinnere, wurde ich gefragt. Nun, das ist einfach zu beantworten: 5. November 1955. Wiedereröffnung der Wiener Staatsoper, Fidelio. Böhm, Tietjen, Holzmeister, Kniepert, Dermota, Mödl, Schöffler, Seefried, Kmentt, Weber, Kamann, Terkal, Jerger – unsterbliche Namensliste. Zur Freiheit, zur Freiheit, heute klingt es noch nach, unvergessliche Stunden der Glückseligkeit, knapp ein halbes Jahr nach dem Staatsvertrag.

Und das kam so: Wir drei Brüder, Ernst-Wolfram,17, der älteste, Philipp-Emanuel, 11, der jüngste, und ich, 13, in der Mitte, waren fest entschlossen, Stehplatzkarten für dieses Jahrhundertereignis zu erwerben. Es war ein Sonntagvormittag im Oktober. Der Vater, Leiter der Bundestheaterverwaltung, kam vom Büro zurück: Buben, wenn Ihr es ernst meint, müsst Ihr gehen, die Leute stellen sich schon an. Was, mehr als eine Woche vor dem Ausgabetermin? Ja, so ist das in Wien. Er konnte es fast nicht glauben, als wir gleich begannen, unsere Sachen zu packen – Decken, Schlafsäcke, Liegematten – und offenbar beeindruckt voluntierte er, uns mit dem Auto zur Oper zu bringen. Tatsächlich, da standen sie schon, aber, so viel war klar, fürs Parterre würde es noch locker reichen.

Die Arkaden sollten Schutz vor Kälte und Regen bieten. Leute blieben stehen, gaben uns Schokolade, Jean Madeira verteilte Orangen. Nur, was niemand wissen konnte, ein Photograph hielt das fest, das Foto mit Jean Madeira und uns dreien, erschien im Kurier, fast irgendwie ein Glück, weil wir ja noch nicht wussten, welche Erklärung wir der Schule gegenüber machen sollten. So war die Katze aus dem Sack, wir waren der Nachsicht des strengen Direktors ausgeliefert, der zwar das Fernbleiben seufzend entschuldigte, uns aber tatsächlich die versäumten Stunden nachholen ließ.

Aus einer möglichen Anstellzeit von mehr als einer Woche wurden aber nur zwei Tage. Da waren dann nämlich schon mehr Leute da als Stehplätze vorhanden waren. Es gab Würstel im Foyer (wo wir kältebedingt übernachten durften) und nach zwei Tagen hatten wir die ersehnten Karten in der Hand. O namenlose Freude…

Es gab aber auch einen Abend, wo wir noch nachträglich froh waren, nicht anwesend gewesen zusein. 29. Februar 1956: Karl Böhm wollte über seinen erklärten Rücktritt noch einmal nachdenken. Am Abend danach, Trillerpfeifenkonzert zu Beginn des Fidelio. Böhm war bestürzt – „der Pöbel der Straße hat in der Wiener Oper die Oberhand gewonnen“. Er verdächtigte die Stehplätzler, namentlich meinen Bruder Ernst-Wolfram, das alles organisiert zu haben. Es gab ein schweres Zerwürfnis mit meinem Vater und anwaltschaftliche Klagsdrohungen. Mein Bruder indes war mit seiner Klasse auf Schikurs am Hochkönig und hatte mit all dem nachweislich nicht das geringste zu tun.

Böhms Verbitterung dauerte an. Noch rund zwanzig Jahre später, als er anlässlich einer Staatsoperntournee in den USA ein Ehrendoktorat in Hartford erhalten sollte und erfuhr, dass ich ihn dorthin als Vertreter des Generalkonsulats begleiten würde, erzählte er Uli Märkle, dem späteren Chef der Telemondial, vom großen Unrecht, das ihm seinerzeit in Wien widerfahren sei. Kaum hatte dann das Privatflugzeug New York verlassen, packte Märkle eine Flasche Champagne raus, schenkte ein und meinte: „So, Versöhnung!“ Und Böhm lächelte, während die New Yorker Skyline immer kleiner wurde, tatsächlich: „ Ja, einverstanden, es ist ja auch wirklich schon sehr lange her“.

Dr. Peter Marboe