Am Stehplatz: Dirigent Jesús López-Cobos
Ich fing im Jahr 1966 ein Kapellmeister- und Chordirigentenstudium an der damaligen Musikakademie in Wien, der heutigen Musikuniversität an. Zuvor hatte ich in Madrid Philosophie an der Universität und Komposition bei Cristóbal Halffter am Konservatorium studiert. Da es dort aber keine Kompositionsklasse gab, musste ich mich nach einem entsprechenden Studienplatz im Ausland umschauen. Glücklicherweise fand damals ein Konzert des spanischen Nationalorchesters unter Claudio Abbado statt, und nach dem Abend fand ich Gelegenheit, mit ihm zu reden.„Gehen Sie nach Wien zu Hans Swarowsky!“ empfahl er mir. Ich bewarb mich und: es gelang! So kam ich also nach Wien, lernte hier für drei Jahre an der Akademie, aber ich lernte nicht nur in den offiziellen Unterrichtsstunden, sondern auch in der Praxis – besonders auch auf dem Stehplatz. Für mich war die Oper eine neue Welt, weil es in Spanien damals kaum Gelegenheit gab, eine solche Vorstellung zu besuchen. Das Teatro Real spielte nicht, und 1964 wurde in einem kleinen Theater die erste, kurze Opernsaison gegeben im Rahmen derer ich die Gelegenheit hatte den Chor zu dirigieren und vorzubereiten. Wenn gespielt wurde, dann das italienische Repertoire, deutsche Oper kannte ich live also praktisch nicht.In meiner Zeit in Wien führte ich genau Buch über alles, was ich musikalisch erlebte. Diese Aufzeichnungen enthielten nicht nur die Besetzungen, sondern auch meine persönlichen Kommentare und Anmerkungen zu den Aufführungen, manchmal auch Kritiken, die erschienen waren. Lange habe ich dieses Buch nicht mehr studiert, aber nun, als ich an meine Stehplatzzeit an der Staatsoper zurückdachte, las ich wieder darin: Am 20. September 1966 erlebte ich meine erste Vorstellung in diesem Haus, ein Don Giovanni unter Josef Krips, Eberhard Waechter sang die Titelpartie, Anton Dermota den Ottavio, Teresa Stich-Randall die Donna Anna, Wilma Lipp die Donna Elvira, Graziella Sciutti die Zerlina und so weiter. Fünf Tage später war ich in einem Lohengrin – wie gesagt, mein erster live-Lohengrin überhaupt –, es dirigierte André Cluytens, Wolfgang Windgassen war der Lohengrin, Elisabeth Grümmer die Elsa, Gustav Neidlinger der Telramund, Ruth Hesse die Ortrud. Und so ging es weiter: Ich war praktisch jeden Abend entweder in der Oper oder im Musikverein oder Konzerthaus, erlebte pro Saison hunderte Vorstellungen. Dabei suchte ich mir die Aufführungen entweder nach Besetzung – da interessierte ich mich naheliegender Weise besonders für den Dirigenten – oder nach Werken aus, da ich einfach vieles noch nicht kannte und kennenlernen wollte.Inszenierungen nahm ich wahr, sie hatten aber damals noch nicht diese Bedeutung, die sie heute haben, es ging ganz allgemein mehr um Sänger und Dirigenten. Und obwohl ich in der Pause und nach den Vorstellungen an Gesprächen über das Gehörte teilnahm und viele Kollegen aus der Musikakademie traf, war für mich der Stehplatz (übrigens: immer der Parterre-Stehplatz) nicht ein sozialer Ort an sich, wie bei vielen anderen. Ich gehörte also keiner „Fraktion“ an, die bewusst bei einem Künstler besonders jubelte, buhte oder miteinander rang, sondern konzentrierte mich auf das tatsächliche künstlerische Geschehen jenseits des Stehplatzes ...
Der in Spanien geborene Dirigent Jesús López-Cobos hat mit den wichtigsten Orchestern der Welt zusammengearbeitet, darunter die Berliner und die Wiener Philharmoniker, das Concertgebouw-Orchester, die Münchner Philharmoniker, das Cleveland Orchestra. Er wirkt an sämtlichen wichtigen Opernhäusern. An der Wiener Staatsoper debütierte er 1980 mit L'elisir d'amore und leitete hier u.a. auch Cenerentola, Bohème, Tosca, Nabucco.