Am Stehplatz: Bariton Vito Priante
An meinen ersten Besuch am Staatsopern-Stehplatz kann ich mich heute noch gut erinnern. Es war im Zuge eines Schulausflugs nach Wien und wir standen vor den Abschlussprüfungen, jedoch noch in jener Phase, in der man ganz entspannt auf die kommenden Prüfungstermine schaut. Für viele von uns handelte es sich nicht nur um die erste Reise nach Wien, sondern überhaupt um den ersten Auslandsaufenthalt, und dementsprechend heiter – wenn auch anstrengend – war die Bahnfahrt.
Jedenfalls kamen wir müde, aber glücklich in Wien an und stiegen in einen Bus, der uns nicht nur ins Hotel (ich kann mich noch erinnern, es war das Hotel Regina) brachte, sondern mit dem wir auch gleich eine kleine Stadtrundfahrt unternahmen. Als wir über den Ring fuhren, machte uns die Reiseleiterin auf die Staatsoper aufmerksam und erklärte, dass man hier schon um 20 Schilling eine Vorstellung besuchen könne. 20 Schilling? dachte ich mir – da muss ich etwas falsch verstanden haben! Auf meine Nachfrage bestätigte sie mir den Preis – und erzählte mir vom Stehplatz. Im Hotel angekommen schnappte ich mir eine Zeitung mit einem Veranstaltungsplan der Woche und schaute nach, was an diesem Abend auf dem Spielplan der Wiener Staatsoper stand: Die Walküre. Die Walküre! Ich liebte dieses Werk schon lange, obwohl ich es bis dahin nie live in einem Opernhaus gesehen hatte. Sofort beschloss ich, die Staatsoper zu besuchen!
Und ich fand eine Mitschülerin, die sich ein wenig in mich verschaut hatte und gerne mitkam. Zusammen kauften wir uns also Karten und erstiegen die Galerie: ganz oben, ganz seitlich! Für meine Begleiterin war der Abend nicht ganz einfach, weil sie keine Opernerfahrung hatte, und dann gleich Wagner! Walküre! – und auf Deutsch ohne Übersetzung. Mich beeindruckte aber nicht nur die Vorstellung, sondern auch die Möglichkeit, günstig die Staatsoper besuchen zu können. Daran merkt man, dachte ich mir schon damals, wie wichtig Musik und Kultur für dieses Land ist! Aber auch das Stehen störte mich nicht – mehr noch, ich finde, dass man sich so besser konzentrieren kann und leichter aufmerksam bleibt, als wenn man sitzt. Denn bequem sitzend fangen die Gedanken leichter zu wandern an … Damals hatte ich übrigens gerade erst mit meinem Gesangsstudium angefangen, und der Beruf des Sängers war nicht viel mehr als ein Traum, der nebenbei noch nicht sehr konkret war. Es folgten im Laufe der Jahre noch viele Wiener Stehplatzbesuche, wobei ich erst sehr viel später, bei meinem ersten Auftritt an der Wiener Staatsoper, eine wichtige Erfahrung machte. Nämlich, dass man als Sänger eine sehr gute Sicht auf das Stehplatzpublikum hat und die einzelnen Besucherinnen und Besucher sehr viel besser und genauer sieht als jene auf den Sitzplätzen. Und so wandern, wenn ich auf der Bühne stehe, meine Augen immer wieder, wenn Zeit dafür bleibt, zu den „Stehplatzlern“, nicht nur, weil ich mich mit ihnen aufgrund meiner eigenen Stehplatz-Erfahrung verbunden fühle, sondern vor allem auch, weil ich sie besonders schätze. Denn es kann vorkommen, dass jemand fallweise nur in die Oper kommt, „weil es sich so gehört“. Aber wer auf den Stehplatz geht, wer dort bis zum Ende der Vorstellung bleibt: der liebt die Oper wirklich und aus ganzem Herzen!
Vito Priante wurde 1979 in Neapel geboren. Nach seinem Studium der Literaturwissenschaft in Neapel debütierte er 2002 mit Pergolesis La serva padrona in Florenz und war 2003 beim Maggio Musicale Fiorentino zu erleben. Er ist gerne gesehener Gast an wichtigen Opernhäusern wie etwa an der Mailänder Scala, der Bayerischen Staatsoper München, dem Teatro La Fenice, am Theatre des Champs-Elysées, am Teatro Carlo Felice in Genua, am Royal Opera House Covent Garden in London, an der Opera de Lyon, in Edinburgh, Cremona, Lissabon, Madrid und bei vielen Festivals wie etwa bei den Salzburger Festspielen oder beim Ravenna Festival.