© Philippe Matsas

ALLES, NUR NICHT ALLTAG

2020 debütierte die Mezzosopranistin Eve-Maud Hubeaux als Eboli in Verdis Don Carlos an der Wiener Staatsoper. Als vielbeschäftigte Sängerin zwischen Salzburg, Paris, Baden-Baden, Berlin und Mailand steht sie in den großen Mezzo-Partien auf den Opernbühnen, wobei sie Wagner, Verdi und Bartók ebenso im Repertoire hat wie Händel und Lully. Anlässlich ihrer ersten Staatsopern-Carmen plauderte sie über ihren Zugang zum Musiktheater und suchte nach einer männlichen Carmen-Entsprechung.
 

Informationen »Carmen«
 

Fangen wir einmal auf der Ihnen vielleicht weniger alltäglichen Seite eines Opernhauses an, im Zuschauerraum. Wenn Sie als Teil des Publikums eine Vorstellung besuchen, was erwarten Sie sich von dem Abend?

EVE-MAUD HUBEAUX Als Besucherin einer Oper möchte ich aus meinem Alltag herauszutreten, die tägliche Routine hinter mir lassen und einen wunderbaren Abend genießen. Das fängt schon bei den Gebäuden an. Opernhäuser sind, egal ob historisch oder zeitgenössisch, architektonisch besondere Orte: damit bin ich schon in einer anderen, außergewöhnlichen Atmosphäre. Und ich lasse mich gerne überraschen. Das kann nun von den Sängerinnen und Sängern kommen, von der Inszenierung oder aus dem Orchester. Wenn das alles gut zusammenspielt, dann ist es großartig. Und wenn nicht, werde ich dennoch etwas Interessantes und Besonderes erleben. Wie gesagt, es geht um das Ausbrechen aus dem Alltag.
 

Worin liegt aber der Unterschied etwa zu einem Kinobesuch?

EH Um ganz ehrlich zu sein: Ich gehe so gut wie nie ins Kino...
 

Nun die umgekehrte Sicht: Sie treten in einer Opernvorstellung auf. Warum tun Sie das? Als Selbsterfahrung? Um andere zu erfreuen? Oder einfach für sich selbst?

EH Ich mache Musiktheater, weil ich gerne auf der Bühne stehe. Dabei geht es für mich aber sehr stark um die besondere Verbindung mit einem Publikum, nicht um das reine Singen. Im Kontakt mit den Zuhörerinnen und Zuhörern fühle ich auf der Bühne ein besonderes Verbunden-Sein, ich spüre, wie das Publikum mir Energie zurückgibt. Aus dieser Verbundenheit heraus ist für mich daher das größte Kompliment, das man mir machen kann, der Satz: »Ich hatte heute einen wunderbaren Abend«.
 

Wie stark sprechen Sie generell auf Aussagen seitens des Publikums an? Wenn Ihnen jemand nach einem Opernabend etwa Kritisches sagt, überdenken Sie das Geleistete? Ändern Sie vielleicht sogar etwas?

EH Ich denke ganz generell, dass wir auf das Publikum hören müssen. Zumindest, wenn es ehrlich gemeint ist und eine Meinung nicht dogmatisch wie ein Urteil verkündet wird. Wenn also jemand nach einem Abend zu mir sagt: Dieses oder jenes habe ich nicht verstanden, es ging mir nicht nahe – dann denke ich darüber nach, was schiefgelaufen ist. Wenn aber eine Spezialistin kommt und mir mitteilt: Also auf der Note B, da würde ich eine Spur länger verweilen und der Ton sollte beim nächsten Mal auch etwas höher sein! Dann fällt mir nur ein: Das würde ich vielleicht gerne so machen, aber besser vermochte ich es heute eben nicht. Es hängt also sehr davon ab, welche Kommentare an mich herangetragen werden – und in welcher Form. Meine Familie, mein Ehemann, meine Umgebung sind alle absolut keine Musiker. Umso wichtiger ist es mir, wie sie eine Aufführung empfunden haben, ob sie sie verstanden haben, ob das Ganze sie berührt hat. Es scheint mir also entscheidend, dass wir den Kontakt mit dem großen Teil des Publikums suchen und finden und nicht nur mit den Spezialisten oder Aficionados. Ich würde zwar nicht sofort etwas an meiner Interpretation ändern, nur weil eine oder einer sagt: »Ich mochte es nicht«. Aber ich höre immer sehr gut zu und denke über das Gesagte nach. Und vielleicht fällt mir etwas ein, was ich anders machen könnte, um besser verstanden zu werden.


Und gibt es eine Person, der Sie bedingungslos vertrauen? Eine Lehrerin? Ein Begleiter? Jemand, der immer da ist und ganz ehrliches Feedback gibt?

Zwei! Eine Pianistin, Cordelia Huberti, die sich nach Möglichkeit aus jeder Aufführungsserie eine Vorstellung anhört. Wenn sie sagt: es war gut – dann war es gut. Und wenn sie sagt: das geht besser – dann setzen wir uns hin und arbeiten gemeinsam daran. Und es gibt noch meine Gesangslehrerin aus Lyon, die inzwischen leider betagt ist und daher nicht mehr viel umherreisen kann. Aber ich besuche sie zumindest einmal im Jahr und wir überprüfen meine Technik und arbeiten an neuen Rollen. Neben meiner Agentur sind diese beiden Personen, die mich seit 15 Jahren kennen, enorm wichtig. Auf sie kann ich mich verlassen.


Wenn nun Angebote für Rollen wie Carmen, Mère Marie, Eboli und so weiter eintrudeln, nach welchen Kriterien nehmen Sie sie an?

Erste Frage: Ist die Rolle stimmlich passend? Das ist das Zentrale. Denn egal wie fantastisch die Musik auch ist, wie faszinierend ein Charakter auch sein mag – wenn man es nicht singen kann, dann sollte man es besser anderen überlassen. Natürlich gibt es Figuren, die interessanter sind als andere. Eine Eboli oder Carmen, das sind schon besonders spannende Rollen, die ich gerne mache! Und dann die Musik: Ich liebe etwa Barockmusik über alles und räume ihr Priorität ein. Vieles andere kommt bei der Rollenauswahl noch dazu: das Haus, der Dirigent, die Regisseurin und so weiter. Und wenn ich es aus der Blickrichtung »Was ist gut für meine Stimme?« betrachte, dann lande ich sehr stark im italienischen und französischen Repertoire. Also eben Eboli und Amneris, Carmen oder Gertrude in Hamlet: das ist derzeit perfekt für mich.
 

Und der Wechsel von Barock zu Verdi und Wagner und wieder zu Barock ist für Sie leicht zu bewerkstelligen? Planen Sie bewusst Pausen zwischen den Engagements ein? Oder vielleicht ist gerade die Abwechslung ja gesund für eine Stimme?

EH Das ist sicherlich etwas, worüber ich bei der Planung einer Saison nachdenken muss. Auch, weil die Barockmusik oftmals etwas tiefer gestimmt ist. Aber spezielle Pausen brauche ich nicht, denn während der Probenphasen hat man ja in der Regel Zeit, sich auf den entsprechenden Stil einzustimmen. Und wenn man in einzelnen Rollen öfters auftritt, sind sie auch schnell wieder präsent. Manches, wie eben Barock, aber auch Mozart oder Rossini fühlt sich geradezu wie eine Pause für meine Stimme an, vor allem, wenn ich sonst Verdi oder Carmen singe.
 

Damit sind wir beim Stichwort. Immer, wenn man über »starke Frauen« in der Oper spricht, kommt unweigerlich Carmen ins Spiel: Ihre Freiheitsliebe, die Unabhängigkeit, die Geradlinigkeit. Doch ist das eine Stärke, die in allen Aspekten sympathisch ist? Oder ist auch Egoismus im Spiel?

EH Was ich bei Carmen sehr interessant finde, ist die Faszinationskraft, über die sie verfügt. Diese bezieht sich auf alle sie umgebenden Menschen, ganz grundsätzlich. Sie ist sich dieser Energie durchaus bewusst, auch wenn sie sie nicht absichtlich erzeugt. Sie ist einfach da. Dazu kommt, dass sie ein extremer Carpe-diem-Mensch ist. Sie denkt nie an den folgenden Tag. Auch das fasziniert die anderen.


Nur als kurze Nebenfrage: Sind Sie auch ein Carpe-diem-Mensch?

EH Oh, definitiv nicht! Ich mag es zwar, Dinge loszulassen und zu genießen, was das Leben zu bieten hat. Aber im täglichen Leben plane ich dann doch alles sehr genau und organisiere Dinge weit im Voraus.
 

Carmen und Don José leben, zumindest in der Opernfassung des Stoffes, in sehr unterschiedlichen Welten. Was findet sie an ihm eigentlich interessant?

EH Das ist eine sehr tiefgehende Frage, die ich regelmäßig mit Regisseuren bespreche – denn diese Antwort gibt einer Inszenierung ihre Richtung. Wenn Carmen sich tatsächlich in Don José verliebt, bedeutet das, dass sie vielleicht etwas in ihrem Leben sucht, was weniger mit Verführung, von der sie in der Habanera spricht, und mehr mit echter Liebe zu tun hat. Wobei ich nicht weiß, inwiefern Carmen überhaupt begreift, was echte Liebe ist. Aber trotzdem: vielleicht sucht sie diese. Wenn Carmen Don José aber in keinem Moment liebt, sondern es nur nicht erträgt, dass er sie als Einziger ignoriert, dann ist das Ganze doch nur eine »Challenge« für sie. Man muss das im Vorfeld gut absprechen – auch mit dem Tenor. Denn Carmen kann man auf sehr unterschiedliche Weise anlegen.


Fällt Ihnen eine männliche Opernfigur ein, die charakterlich der Carmen entspricht? Manche entdecken Aspekte von Don Giovanni in ihr – und umgekehrt.

EH Darüber habe ich nie nachgedacht, aber ich denke, dass Don Giovanni ganz anders ist. Ihm geht es um das Sammeln von Liebschaften, das ist aber nicht das, was Carmen interessiert. Sie nimmt einfach eine Liebe, dann noch eine und wieder eine – und vergisst alles, was zuvor war.


Ihre beiden Staatsopern-Rollen in dieser Spielzeit sind Carmen und Mère Marie in der Premiere von Dialogues des Carmélites. Die erste Partie kennen im Publikum viele, die zweite deutlich weniger. Ändert das etwas an Ihrem Zugang zu den jeweiligen Rollen?

EH Ich glaube, ich könnte keine unterschiedlicheren Charaktere singen als diese beiden! Auf meine Annäherung an eine Partie hat es allerdings keinen Einfluss, ob eine Oper bekannt ist oder nicht. Der größte Unterschied bleibt für mich, dass ich Carmen schon mehrfach gesungen habe und Mère Marie mein weltweites Rollendebüt werden wird. Es sind also verschiedene Erfahrungswerte ist Spiel – und das wirkt sich auch auf den Druck, den ich spüre, aus.


Als letzte Frage: Gibt es einen Moment, den Sie in Carmen besonders schätzen? Einen Augenblick, den Sie dem Publikum ans Herz legen wollen, damit niemand ihn verpasst.

EH Auf alle Fälle das Ende des Kartenterzetts, wenn Carmen vom Tod spricht. Darum geht es in der Oper ja auch, um den Tod. Aber diese Stelle ist musikalisch so schön, dass man sie ohnedies nicht verpassen kann.
 


CARMEN
19. / 22. / 25. / 28. April 2023
Musikalische Leitung Alexander Soddy Inszenierung Calixto Bieito
Szenische Einstudierung Joan Anton Rechi
Bühne Alfons Flores
Kostüme Mercè Paloma
Licht Alberto Rodrigauez Vega
Mit u.a. Eve-Maud Hubeaux / David Butt Philip / Erwin Schrott / Anna Bondarenko / Ileana Tonca / Isabel Signoret / Ilja Kazakov / Stefan Astakhov / Carlos Osuna / Michael Arivony