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Adriana Lecouvreur: DEN PSYCHOLOGISCHEN NUANCEN AUF DER SPUR

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Ein internationales Rollendebüt von gefeierten Interpretinnen oder namhaften Interpreten ist für viele im Publikum so etwas wie ein kleiner Opernfeiertag. Die Erwartungen sind hoch, die Vorfreude ebenso und Eintrittskarten verwandeln sich schon vorab in kostbare Trophäen. An der Wiener Staatsoper ist es am 22. Oktober wieder so weit, wenn KS Elīna Garanča in Francesco Cilèas Adriana Lecouvreur erstmals die Partie der eifersüchtigen und gefährlichen Fürstin Bouillon gibt.

Die Principessa Bouillon ist eine der dunkelsten Frauengestalten der Opernliteratur. Sie ermordet ihre Nebenbuhlerin Adriana – noch dazu meuchlings mit Hilfe eines vergifteten Blumenstraußes – und im Gegensatz zu anderen verschmähten und gekränkten Täterinnen, wie etwa eine Eboli oder Abigaille, kennt sie nicht einmal Reue. Sie verschwindet nach dem dritten Akt ganz einfach aus der Handlung.

Elīna Garanča: Ist sie wirklich die Absenderin der todbringenden Veilchen? Sie könnte es gewesen sein, aber mit Sicherheit wissen wir das nicht. Was, wenn ein anderer aus dem Umkreis der Bouillon noch eine Rechnung mit Adriana zu begleichen hatte – oder gar mit der Fürstin selbst – und daher die besagten Blumen abschickt, um den Verdacht auf sie zu lenken? Netflix beliefert uns tagtäglich mit zahlreichen Geschichten die von ähnlichen kriminellen Irreführungen erzählen. Also ich persönlich finde jedenfalls, dass es sich nicht lohnt, wegen einer Liebesgeschichte zur Mörderin zu werden (lacht). Aber die aus Liebe verrückt gewordenen Verbrecher sind ein beliebtes Thema des Theaters und der Literatur, und ich gebe zu: in gewissen Situationen kann der klare Hausverstand tatsächlich gefährlich aussetzen und erst wieder zuschalten, wenn es zu spät ist. Der Selbstmörder, der sich von einer Brücke oder einem Turm herunterstürzt, bereut ja, laut Psychologen und überlebenden von Suizid-Versuchen, einen Sekundenbruchteil nach dem Absprung die Tat. Aber selbst wenn die Bouillon die vergifteten Blumen wirklich selbst abgeschickt hat: Möglicherweise will sie nur wenig später das Ganze am liebsten rückgängig machen, vielleicht sogar noch ehe sie die Todesnachricht erhält. Oder ist sie doch eine eiskalte Teufelin? Man sagt, dass die Liebe das Beste aus dem Menschen hervorbringt. Aber wenn das, was wir von ihr erleben, bereits das Beste ist, wie sieht dann ihre schlimmste Seite aus? Wissen Sie, das Schöne an meinem Beruf ist auch, dass man sich in Personen hineinversetzen darf, die man immer anders ausleuchtet. Ich mache jetzt die Principessa zum ersten Mal und werde vermutlich mit jeder weiteren Produktion ein wenig anderes, reicheres Bild von ihr erhalten. Daher möchte ich grundsätzlich kein apodiktisches Urteil über eine Figur fällen. Ich liebe es, wenn mir ein Regisseur seine Vision des Stückes eröffnet und sich die großen Charaktere immer wieder verändern – schließlich möchte ich meine Partien nicht ewig auf dieselbe Art Weise singen und spielen. Ich liebe das Neue!

Und deshalb erweitern Sie auch regelmäßig Ihr Repertoire – wie jetzt durch die Principessa.

Elīna Garanča: Nicht nur ich, auch meine Stimme benötigt immer wieder neue Herausforderungen. Das Schwierige an der Principessa di Bouillon ist vor allem, dass es keine Aufwärmphase gibt, die Rolle am Beginn des zweiten Aktes gleich mit der großen Arie anfängt: zunächst braust sie sehr dramatisch los, dann kommen heikle Legatostrecke für die man schon einige Teile des Körpers zusammenpressen muss, um mit der Luft auszukommen (lacht) und zum Drüberstreuen geht es am Ende noch ordentlich in die Höhe!

Was bedeutet?

Elīna Garanča: Was bedeutet, dass die Sängerin der Principessa den ersten Akt, in dem sie noch nicht auftritt, in der Garderobe verbringt und ununterbrochen die Arie singt, um sich aufzuwärmen.

Aber nach der Arie wird es vokal weniger gefährlich.

Elīna Garanča: Es gibt danach schon auch einige Passagen, in denen man beweisen muss, was man stimmlich draufhat, aber es wird etwas lockerer. Dafür geht es darum, alle Register der Schauspielkunst zu ziehen. Grundsätzlich möchte ich die Seelenlandschaft der Figuren die ich darstelle, nie gleich in den ersten Minuten in ihrer Gesamtheit präsentieren, sondern entschleiere erst im Laufe des Abends nach und nach immer weitere Facetten. Manchmal sogar nur stumm durch Reaktionen auf etwas Gehörtes, Gesehenes. Auf jeden Fall versteht das Publikum oft erst im Nachhinein, warum die dargestellten Charaktere zuvor gerade so und nicht anders agiert haben. Das ist wie im wirklichen Leben: Wer durchschaut schon das Gegenüber von Anfang an vollständig? Und im Falle der Principessa gibt es nach der Arie viele schöne Gelegenheiten, solche Nuancen aufzudecken.

Es ist doch interessant, dass gerade die Schauspielerin Adriana Lecouvreur in ihrer bewussten Anklage durch das Phädra-Zitat erklärt, dass sie sich nicht so verstellen könne wie ihre Gegnerin, die Principessa.

Elīna Garanča: Es gibt Menschen, die einen übersteigerten Drang haben, von möglichst vielen geliebt zu werden und deshalb nicht ihr eigenes Ich leben, gesellschaftliche Akzeptanz suchen. Die Principessa wird auf den ersten Blick von ihrer Eifersucht getrieben sich zu verstellen. Aber vielleicht ist diese übersteigerte Eifersucht ein Zeichen des Gefühls einer generellen Nichtangenommenheit, vielleicht hat sie narzisstische Tendenzen, wodurch sie eine Kränkung in übersteigerter Form wahrnimmt? Wir wissen ja genau genommen nicht sehr viel von ihr. Wie ist ihre Ehe? Hat sie Kinder? Was war das für ein Verhältnis mit dem Grafen Maurizio, wie waren die gemeinsamen Nächte mit ihm, was hat sie in ihrer Liebe alles auf ihn projiziert? Auf jeden Fall ist Adriana als Mensch ehrlicher und offener als die Principessa. Adriana »verstellt« sich nur auf der Bühne als Schauspielerin, nicht im Alltag.

Kehren wir noch einen Moment zur Auftrittsarie zurück: Sie fängt wie gesagt sehr dramatisch an und wird dann deutlich milder, sehnsuchtsvoller. Was sagt dieser doch eklatante Wechsel über die Principessa aus?

Elīna Garanča: Vermutlich ist sie einerseits sehr verletzlich, unsicher und andererseits bipolar veranlagt! Diese Tendenz haben übrigens viele der Mezzosopran-Charaktere, deshalb kommt es bei ihnen so oft zu temperamentvollen Ausbrüchen.

Mit anderen Worten: Ein vielfältigerer, spannenderer Charakter als die Titelfigur?

Elīna Garanča: Der Mezzosopran ist meistens der spannendere Charakter! Egal ob als Hosenrolle oder als dramatische Frauenpartie, der Mezzo bildet den Angelpunkt der Handlung, bringt die Geschichte ins Rollen, selbst wenn er nicht die eigentliche Hauptrolle ist. Ohne Octavian heiratet Sophie den Ochs, ohne Amneris bleiben Radames und Aida am Leben, ohne Charlotte dreht Werther nicht durch und was wäre La clemenza di Tito ohne Sesto?

Es wird immer wieder diskutiert, ob Adriana Lecouvreur als veristische Oper einzustufen ist oder nicht doch, durch den französischen Impressionismus beeinflusst, in eine andere Richtung weist. Was reizt Sie an der Musik Francesco Cilèas?

Elīna Garanča: Wenn ich mich mir die Melodieführung, die großen Exklamationen, die sehr realistisch anmutende Handlung ansehe, kann ich gar nicht anders, als Adriana Lecouvreur für eine veristische Oper zu halten. Von mir aus für eine französisch angehauchte veristische Oper. Anders als bei Mozart, wo es um eine sehr präzise instrumentale Stimmführung geht, anders als im Belcanto, mit den unendlichen Legati und tausenden technischen Finessen, geht es im Verismo um Ausdauer, um Kraft, um eine ganz bestimmte Art Emotion darzustellen und zu transportieren, um die richtige Dosierung der notwendigen Portamenti, um den wohldurchdachten Aufbau einer Phrase bis zum impulsiven Höhepunkt – der übrigens nicht zwingend am höchsten Ton sein muss. All diese Komponenten finde ich in Cilèas Musik und das macht ihn mir so wertvoll.

Bleiben wir bei einem angesprochenen Detail: Woher weiß man, wo ein Portamento – die Verbindung zweier Noten mit einem Schleifer – angebracht ist und wo es zu viel wäre, zu billig wäre eines zu machen?

Elīna Garanča: Es ist eine Frage des Geschmackes, der sich wiederum aus Stilkenntnis beziehungsweise Musikwissenschaft zusammensetzt. Manchmal ist ein Portamento notiert, vor allem in der französischen Musik, insbesondere in den Opern Massenets. Ganz grundsätzlich muss man auch wissen, wie man ein Portamento begründet: emotional, vokal, künstlerisch. Wichtig ist au.erdem, dass es mit dem Dirigenten und dem Orchester abgesprochen ist, vor allem, wenn die Musiker im Graben das Portamento in derselben Manier mitmachen sollen.

Sie singen die Principessa am 22. Oktober erstmals auf einer Opernbühne ...

Elīna Garanča: ... mir werden davor sicher die Knie schlottern.

Aber wie bereitet man eine neue Partie vor? Es gibt von Yehudi Menuhin den Ausspruch, dass man ein Stück nur dann wirklich beherrscht, wenn man vor Publikum im betreffenden Werk jeden nur denkbaren Fehler mindestens einmal gemacht hat.

Elīna Garanča: (lacht) Die Erfahrungen, die man schon mit anderen Rollen erleben durfte, helfen ebenso wie eine gute Vorbereitung, die Wechselwirkung mit dem Publikum, das Adrenalin am Vorstellungstag. Die bereits erwähnte große Arie habe ich zum Beispiel schon in Konzerten gesungen. Allerdings: Es ist schon etwas anderes, ob man die Beine in den Boden stemmt und nur singt oder auf der Opernbühne auch agiert. Und gerade aus diesem Agieren kann man die dabei entstehende Energie nutzen – das lernt man im Laufe der Jahre.

Eine letzte Frage: Welchen Aspekt lieben Sie an Ihrem Beruf am meisten, gibt es den magischen Faust’schen Moment des »Verweile doch, du bist so schön« und wann taucht er auf

Elīna Garanča: Diesen Moment gibt es: Die Arie geht dem Ende entgegen und ich halte den letzten Ton noch etwas aus und dann ... dieser Augenblick der Stille zwischen dem Verklingen des Tones und dem Einsetzen des Applauses, diese Sekunden oder Bruchteile von Sekunden, in denen die Zeit still zu stehen scheint, das Publikum den Atem anhält und sich eine Energie im Raum aufbaut, das sind die schönsten Momente in meinem Beruf. Denn da fühle ich mich mit jedem einzelnen im Publikum intensiv verbunden.

 

ADRIANA LECOUVREUR
22. / 25. / 29. Oktober 2021,
2. & 5. November 2021

Musikalische Leitung Omer Meir Wellber
Inszenierung David Mc Vicar
Bühne Charles Edwards
Kostüme Brigitte Reiffenstuel
Licht Adam Silverman
Choreographie Andrew Goerge

Adriana Lecouvreur Ermonela Jaho
Fürstin von Bouillon Elīna Garanča
Maurizio Brian Jagde
Fürst von Bouillon Evgeny Solodovnikov
Abate Andrea Giovannini
Michonnet Nicola Alaimo
Quinault Ilja Kazakov*
Poisson Angelo Pollak*
Jouvenot Ileana Tonca
Dangeville Patricia Nolz*

* Mitglied des Opernstudios der Wiener Staatsoper