Aber Lea verkarpft nicht...
Der finale Vorbereitungsprozess für die Uraufführung der Weiden war intensiv und forderte die Interpreten gleichermaßen wie die Schöpfer des Stückes. Zwischen Stellproben, musikalischen Proben, Arbeiten im Tonstudio und Filmaufnahmen, die in die visuelle Realisation einflossen, fanden der Komponist Johannes Maria Staud und der Textdichter Durs Grünbein dennoch Zeit für das folgende Doppelinterview.
Bevor wir näher ins Detail gehen, hätte ich noch einige Fragen zur äußeren Form der Weiden: Es handelt sich um eine Oper in sechs Bildern, vier Passagen, einem Prolog, einem Vorspiel, einem Zwischenspiel und einem Epilog. Warum Bilder, warum nicht Akte?
Durs Grünbein: Am Beginn des Arbeitsprozesses galt es, die Grundstruktur des Werkes festzulegen. Wir beschlossen beispielsweise früh, es Oper und nicht Musiktheater zu nennen, wie es sich in Kreisen der Neuen Musik eigentlich gehört. Und im Zuge dieser Diskussion konnten Johannes und ich uns sehr bald auf BILDER einigen. Der Ausdruck ist etwas geräumiger, er lässt an Gemälde, an Landschaftsmalerei denken. Im Allgemeinen wird gern über den Zusammenhang von Text und Musik gesprochen, von ihrer Reibung – als dritte, ebenso wichtige Komponente, kommt aber die bildliche Vorstellung hinzu, der oft zu wenig Bedeutung beigemessen wird. In meiner Arbeit spielt aber gerade dieser Aspekt eine große, vielleicht die größte Rolle. Imaginiere ich mir einen bestimmten Raum, treten sogleich konkrete Bilder vor das innere Auge, die ich dann in wenigen markanten Strichen dem Publikum zu vermitteln versuche. Hier ist die bildende Kunst unmittelbar Vorbild. Der schottische Maler Peter Doig etwa, von dem es etliche Bilder mit Kanu-Motiven gibt. Er konzentriert sich sehr stark auf die einzelne Figur in der Landschaft. Und alles, der Wald, das Gewässer, der Himmel, ist in eine besondere Schwingung versetzt. Ich selber habe solche Landschaften in Nordamerika und in Kanada gesehen. Dort sind die Indianer in den Wäldern verschwunden, über allem liegt der Schatten eines großen Verbrechens. Genauso stelle ich mir die Atmosphäre entlang des großen Stromes, an dem diese Oper spielt, vor.
Und in welchem Maße rufen bestimmte Themen oder Orte auch bei Ihnen Bilder hervor, die Sie assoziativ zu Klängen und musikalische Formen inspirieren?
Johannes Maria Staud: Ich lasse mich in meiner Zusammenarbeit mit Durs Grünbein gerne ganz instinktiv von Bildern oder ein paar Zeilen von ihm leiten, die ich dann, im Grunde ganz schamlos und betont subjektiv, in Klänge transformiere – und gerne auch gegen den Strich bürste – Arnold Schönberg ist für so ein Verfahren ein guter Lehrmeister. Im aktuellen Fall ist der Strom, das Wasser ein zentrales Element und so beschäftigte ich mich entsprechend intensiv mit Wassergeräuschen – zum Beispiel mit dem Blubbern, dem Rauschen eines Flusses, dem Klang des Strömens. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung fand dann auch Eingang in die Partitur und wird bei den Vorstellungen für das Publikum auf instrumentalem, aber auch auf rein elektronischem Weg bzw. Mischformen daraus wiedergegeben werden.
Kommen wir zur nächsten Binnengliederung: Passagen. Handelt es sich hierbei um gedankliche oder musikalische Übergänge?
Durs Grünbein: Der Ausdruck PASSAGEN ist durchaus mehrdeutig zu verstehen. Formal handelt es sich um Zwischenstücke, die Verbindungen aber auch Brüche schaffen und die Szenen verbinden. Andererseits treiben sie die Handlung voran, die Figuren der Oper sind auf einer Flussreise unterwegs auf einem Strom, der von Westen nach Osten fließt, in Richtung Graues Meer. Es soll sich mitteilen, dass hier im Laufe von sechs Bildern mehrere hundert Kilometer zurückgelegt werden.
Johannes Maria Staud: Musikalisch wird bei den Passagen allein von der Besetzungsgröße her radikal zurückgefahren. Ein tiefes Soloinstrument – in jeder Passage ein anderes (Tuba, Kontrabassklarinette, Kontrabass und Fagott) – steht dabei im Mittelpunkt und tritt jeweils mit Live-Elektronik in Interaktion. Es soll bei den Passagen durchaus ein Bruch entstehen, nicht von der Harmonik, sondern vom Intimitätsgrad her. Es handelt sich um betont kammermusikalisch geprägte Abschnitte, die sogar auf einer ganz kleinen Bühne funktionieren würden und sich klar von den gro.orchestrierten Teilen abgrenzen. Schließlich wird mit den Passagen der heimliche Hauptprotagonist der Oper, der Strom in den Mittelpunkt gestellt – und dieser hat schließlich eine eigene Klanglichkeit.
Welche Aufgabe kommt dem Zwischenspiel zu?
Johannes Maria Staud: An der Zweiten Wiener Schule und am Serialismus hat mich immer schon das konstruktivistische Moment interessiert – da bin ich einfach Modernist und ich selbst verfolge in meinen Kompositionen einen bewusst nicht schematischen, formal eigenwilligen Aufbau. Das sieht beispielsweise im Falle der Weiden folgendermaßen aus: Es beginnt, der Idee der Eingangssequenz eines Filmes folgend, mit dem kammermusikalischen Prolog, dem ein großzügig dimensioniertes, groß orchestriertes Vorspiel folgt, quasi die Ouvertüre, und erst danach, mit dem Ersten Bild, fängt die Oper so richtig an. Die bereits erwähnten Passagen liegen zwischen den Bildern, nur im vierten ist sie aufgespalten innerhalb eines seinerseits aufgespaltenen Bildes. Nun dachte ich mir: Wir haben ein Vorspiel, aber kein Nachspiel – der kurze Epilog ist rein gesprochen, also benötigte ich noch, auch durch Gespräche mit der Regisseurin Andrea Moses beflügelt, noch ein wuchtig-rasendes Zwischenspiel, eine „Umbaumusik“ zwischen zwei zentralen Szenen, dem ersten und zweiten Teil von Bild 4. Und so entstand eine, mit Augenzwinkern nach Wagner benannte Verwandlungsmusik, die musikalisch wie theaterpraktisch zwischen der intimen Szene im Elternhaus und der personenreichen Wahlkampfveranstaltung am Marktplatz vermittelt.
Und weshalb nimmt das Vorspiel inhaltlich den Schluss vorweg?
Johannes Maria Staud: Das ist ein wenig dem Horrorfilmgenre abgelauscht: Auch dort wird schon am Beginn gerne zur scheinbar idyllischen Umgebung irgendein leiser bedrohlicher Kontrapunkt gesetzt, eine bedrohliche, fatale Ahnung die auf etwas Dunkles vorausweist… Suspense pur.
Durs Grünbein: … also ein Kunstgriff, um zusätzlich Spannung aufzubauen. Musik: der große Stimmungsmacher.
Johannes Maria Staud: Rein musikalisch wird darüber hinaus im letzten, sechsten Bild einiges harmonisch wiederaufgenommen, das im Vorspiel schon im Pianissimo vorgestellt wird, allerdings durch den Einsatz der Großen Orgel und des vollen Chores in einer völlig neuen Beleuchtung – das Vorspiel hat also auch eine Art Klammerfunktion. Es ist ein Scharnier – und das wird im vollen Ausma. erst im Nachhinein klar.
Lea sagt an einer Stelle sinngemäß, dass der Fluss stromaufwärts friedlicher war. Macht der Fluss eine Parallelverwandlung zur Verkarpfung eines Großteils des Personals durch, besteht hier eine Wechselbeziehung? Wird der Fluss böse?
Johannes Maria Staud: Der Fluss kann nicht böse sein. Er ist per se wertfrei, da er ja auch unbeirrt weiterfließen wird, was auch immer an seinen Ufern geschieht. Das hat auch etwas Zynisches. Ja, Natur kann zynisch und gleichgültig sein und grausam wirken. Jedenfalls spiegelt sie häufig mehr die Gefühlswelt in uns wider – im Vergrößerungsglas der Erhabenheit. Das ist im höchsten Grade beunruhigend. Ein Strom kann auf jeden Fall bedrohlich wirken. Nicht umsonst möchte Lea umkehren, als sie und Peter im Wasser seinen Farbwechsel bemerken.
Durs Grünbein: Die Verwandlungen sind ein eigenes Kapitel, und es ergeben sich da Verknüpfungen auf mehreren Ebenen der Handlung. Im Kern geht es um eine „Mutation“ gewisser Teile der Gesellschaft. Der Dramatiker Ionesco hat das in seinem Bild von den Nashörnern verarbeitet – eine Herde von Dickhäutern bricht los und trampelt durch die Wohnzimmer der Bürger. Bei uns ist die Parabel von den Karpfenmenschen. Wir operieren da auch mit einer gewissen Naturmystik. Wir kennen die Landschaftsbilder der Romantiker, die einerseits den großen Frieden der Natur, andererseits aber auch das Unheimliche. Caspar David Friedrichs hat in seinen deutschen Landschaften von der Vereisung, vom Tod der Hoffnungen erzählt. Oft steht der Einzelne bei ihm den feindlichen Elementen gegenüber. Eine der literarischen Inspirationen für unsere Oper war Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis. Conrad meint mit diesem Titel den innersten Urwald Afrikas, in dem man plötzlich, von der offenen Küste über den Strom herkommend, von jeder Zivilisation abgeschnitten, ein Gefangener ist. Solche Bilder spielen auch in den Weiden eine Rolle, sie sind Übersetzungen der seelischen Lage des Menschen.
Herr Staud, Sie haben einmal angemerkt, dass in den Weiden die Musik zum Teil mit dem Libretto mitgeht, sich zum Teil aber vom Text emanzipiert. Warum letzteres?
Johannes Maria Staud: Im Grunde ist das Dagegenarbeiten eine alte Tradition, die Sie schon bei Heinrich Schütz finden oder viel später etwa im Überlebenden aus Warschau bei Schönberg. Manchmal ist es einfach auch ein atmosphärisches Ausdrucksmittel. Ich liebe es, falsche Fährten zu legen, Falltüren einzubauen. Nur ein Beispiel: Im ersten Bild zeigt der Text das verliebte Paar in einer freundlichen Flusslandschaft. Wenn ich es dazu in der Musik, ganz tief im Untergrund, bizarr und leise dunkel grummeln lasse, zeige ich die Bedrohtheit dieser Idylle, anstatt sie zusätzlich musikalisch zu unterstreichen – dadurch bekommt die Szene eine ganz andere Qualität, als sie es beim bloßen Lesen des Textes hat. An anderen Stellen geht es um die Frage der Klimax oder der ironischen Brechung: Nicht immer empfinde ich den dramatischen Höhepunkt an derselben Stelle wie der Librettist und es gibt Situationen oder Sätze, bei denen der Komponist, anders als der Textdichter, Betroffenheit zum Ausdruck bringen will und nicht Ironie.
Einen sowohl textlichen wie musikalischen dramatischen Höhepunkt stellt der Sturm gegen Ende der Oper dar: Versinnbildlicht er die Reaktion der Natur, die auf das Böse reagiert und die aus den Fugen geratene Welt wieder ins Lot bringt?
Durs Grünbein: Ganz ohne die Idee von Schuld und Sühne scheint es in der Welt nicht abzugehen. Denkt man etwa an die Katastrophe in Fukushima – das hat sofort zu einer neuen Debatte über Atomkraftwerke in der westlichen Welt geführt. In Deutschland beschloss man damals langfristig den Ausstieg. Aber kaum liegt das Ereignis ein paar Jahre zurück, ist die Sache vergessen, wie damals nach Reaktorunfall in Tschernobyl. Nach gro.en .berschwemmungen, Flutkatastrophen, Wirbelstürmen kommt es jedes Mal wieder zur einer Klimadiskussion. Die Gesellschaft ist verunsichert, es gibt ein diffuses Schuldgefühl der Natur gegenüber. Darauf wird hier indirekt angespielt.
Johannes Maria Staud: Wir haben bewusst viele Türen zugelassen, etwa den Zusammenprall der Weltreligionen, wie wir es jetzt erleben. Wir haben uns eher auf den Angry White Man irgendwo da draußen in der Provinz konzentriert, dessen Hauptinteresse darin besteht, dass es anderen, den „Fremden“, die er nie kennenlernen wird und die ihm rein gar nichts wegnehmen wollen, noch viel schlechter geht als ihm selbst…
Wir haben in der Oper zwei Liebespaare vor uns: Lea und Peter sowie Kitty und Edgar. Trotzdem bekommt man nie den Eindruck, dass hier jemals echte Liebe aufkommt. Alles bleibt im Körperlichen verhaftet.
Johannes Maria Staud: Ist es nicht oft so, dass die mächtige Körperlichkeit zu spät erkennen lässt, wie wenig man einander in Wahrheit bedeutet?
Durs Grünbein: Ich kann hier auf die Studien der israelischen Soziologin Eva Illouz verweisen. In ihrem Buch Der Konsum der Romantik weist sie eine fast schon strukturelle Unmöglichkeit einer andauernden Liebe im libertären Kapitalismus nach. Wenn der Körper zum Tauschmittel wird und das Glück in der Attraktivität und im Funktionieren des Körpers liegt, ist es mit der Romantik nicht mehr weit her. Die Sehnsucht bleibt, aber auch sie wird an den Paarbörsen gesteuert und ist Teil der kommerzialisierten Gefühle geworden. Sex ist die Währung, in der diese „Romantik“ bezahlt wird. Damit wird die Liebe selber, als Utopie, die alle Ökonomie in Frage stellt, zum größten Tabu. Wie sagte einer der Befragten der Soziologin, ein Arzt? „In meiner Vorstellung ist Romantik eine Art Fantasiebegriff, von dem Jungen in dem Boot mit dem Mädchen, es ist die Fantasievorstellung von einem Abendessen bei Kerzenschein in einem teuren französischen Restaurant, es ist eine Art Schwindel. Romantik ist diese Art von Scheißrestaurant in der Park Avenue, Wein und Rosen und Blumen.“
Die Weiden | Johannes Maria Staud - Durs Grünbein
Uraufführung: 8. Dezember 2018
Reprisen: 11., 14., 16., 20. Dezember 2018