© Wiener Staatsoper / Axel Zeininger
Rudolf Nurejew & Damenensemble (1988)
© Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Liudmila Konovalova (Odile) & Masayu Kimoto (Prinz Siegfried)
© Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Davide Dato (Prinz Siegfried) & Kiyoka Hashimoto (Odette)
© Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Arne Vandervelde (Prinz Siegfried) & Ioanna Avraam (Odile)
© Wiener Staatsballett / Ashley Taylor
Timoor Afshar (Prinz Siegfried) & Olga Esina (Odette)

60 Jahre »Schwanensee« von Rudolf Nurejew

»Es wurde ein Theaterabend, an dem ein besessener Theatermann in seinem künstlerischen Höhenflug alles überragt, was in den letzten Monaten in Europa an Balletten produziert worden ist.«
Horst Koegler (1964)

Der 15. Oktober 1964 markiert eines der herausragendsten Ereignisse in der Geschichte des Balletts an der Wiener Staatsoper: die Premiere des Ballettklassikers Schwanensee zu Piotr I. Tschaikowskis Partitur in der neu gedeuteten, vieraktigen Fassung des damals erst 26-jährigen Rudolf Nurejew, der zugleich die auf sich maßgeschneiderte männliche Hauptrolle des Prinzen Siegfried tanzte. Diesen großen, durchaus waghalsigen Coup hatte der damalige Ballettdirektor des Hauses am Ring Aurel von Milloss gelandet. Als Tänzer bereits ein Star, als Choreograph nahezu unerfahren, war es Nurejews erste Inszenierung außerhalb des Royal Ballet, für das er bereits Einstudierungen von Werken Marius Petipas gemacht hatte. Auch bei Schwanensee diente ihm – wie zahlreichen weiteren Choreograph*innen weltweit – Petipas und Lew Iwanows Fassung aus dem Jahr 1895 als Basis. Erstmals wurde an der Wiener Staatsoper somit der komplette Schwanensee aufgeführt, zuvor lediglich der zweite Akt in der Choreographie von Gordon Hamilton nach Iwanow. Für das Ballett der Pariser Oper erarbeitete Nurejew 1984 eine weitere Fassung dieses Meisterwerks.

Die Wiener Schwanensee-Premiere vor exakt 60 Jahren in der Ausstattung von Nicholas Georgiadis und unter dem Dirigat von Charles Dutoit wurde zum Triumph – allen voran für Choreograph und Protagonist Rudolf Nurejew und die britische Ausnahme-Ballerina Dame Margot Fonteyn in der Doppelrolle der Odette/Odile: 89 Mal wurden sie vom begeisterten Publikum vor den Vorhang geklatscht, womit die höchste jemals aufgezeichnete Anzahl von Vorhängen bei einem Ballett sogleich einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde erzielte.

Mit der bekannten Verfilmung dieser Produktion im Jahr 1966 – ebenfalls mit Nurejew und Fonteyn in den Hauptpartien – wurde dieser außergewöhnlichen Inszenierung zudem ein Denkmal gesetzt.

Was war nun aber das Außergewöhnliche des Wiener Schwanensee?

Der ehemalige Direktor des Wiener Staatsopernballetts Gerhard Brunner bezeichnete in Ballett 1965 Nurejews Neufassung als eine der bedeutsamsten, die zu dieser Zeit in Europa zu sehen war, »weil sie am glücklichsten die Mitte zwischen choreographischer Überlieferung und notwendiger Erneuerung findet und Ansätze zu einer modernen Dramaturgie enthält, ohne Stil und Tradition zu verletzen«.

Der wohl größte Unterschied zu den bisherigen Fassungen war die Aufwertung der männlichen Hauptrolle, war doch stets die Ballerina die zentrale Figur dieses Balletts gewesen. Nurejew rückte Prinz Siegfried als psychologisch durchleuchtete Gestalt in den Mittelpunkt, indem er für diesen unter anderem am Ende des ersten Akts ein melancholisches Solo einfügte, das er schon 1963 für eine Produktion des Royal Ballet choreographiert hatte, sowie zuvor einen Pas de cinq, an dem der Prinz teilhat. Neben überarbeiteten Ensembletänzen des ersten und dritten Akts, der vom Prinzen getanzten Coda des Pas de deux mit Odette im zweiten Akt sowie dem Pas de deux mit Odile im dritten Akt, gestaltete Nurejew den vierten Akt gänzlich neu mit meisterhaft arrangierten Formationen des Schwanenensembles und einem tragischen Ende: der Prinz und Odette werden nicht, wie in vielen sowjetischen Fassungen, wiedervereint, sondern der getäuschte und betrogene Siegfried ertrinkt verzweifelt in den von Zauberer Rotbart aufgewühlten Fluten – ein optisch, emotional und musikalisch stets ergreifender Moment am Ende dieses Balletts.

Bis heute zählt Nurejews »Wiener Fassung« mit bis dato 260 Aufführungen (Stand 11.10.2024) zu den beliebtesten und nahezu immer ausverkauften Signaturstücken des Wiener Staatsballetts – in immer wieder neuer Ausstattung, aktuell in jener von Luisa Spinatelli, sowie zahlreichen Besetzungen in den vielen größeren, aber auch kleineren solistischen Partien. Als Odette/Odile waren seit 1964 neben Margot Fonteyn unter anderem 21 Mal Gisela Cech zu sehen, in weiterer Folge etwa Brigitte Stadler, Simona Noja, Maria Yakovleva oder Nina Poláková sowie in der aktuellen Spielzeit Liudmila Konovalova, Kiyoka Hashimoto, Ioanna Avraam – die am 5. Oktober ihr Debüt gab – und Olga Esina. Den Prinzen Siegfried tanzte bei der Wiener Premiere sowie in weiteren 46 Aufführungen im Haus am Ring Rudolf Nurejew selbst, Michael Birkmeyer verkörperte diese Rolle 37 Mal. Weitere Interpreten waren unter anderem Karl Musil, Vladimir Malakhov, Gregor Hatala, Vladimir Shishov und Denys Cherevychko. In der laufenden Saison interpretieren diese Rolle Masayu Kimoto und Timoor Afshar sowie Davide Dato und Arne Vandervelde, die beide ihre Debüts feierten.

Mit der 261. Aufführung am 14. Oktober 2024 feiert das Wiener Staatsballett das 60. Jubiläum von Rudolf Nurejews Schwanensee. Wie die junge Generation auf diese legendäre Inszenierung blickt, verraten drei Debütant*innen dieser Spielzeit – Ioanna Avraam, Davide Dato und Arne Vandervelde – im Gespräch mit Iris Frey. Das vollständige Interview finden Sie HIER.

IF Warum übt Schwanensee und Nurejews Fassung im Speziellen eurer Meinung nach auch gegenwärtig noch so eine Faszination bei Tänzerinnen und Tänzern, aber auch dem Publikum aus?

IA Der anhaltende Zauber von Nurejews Schwanensee liegt in seinem zeitlosen Reiz und seiner emotionalen Tiefe. Für Tänzer*innen stellt das Ballett die ultimative technische und künstlerische Herausforderung dar. Für das Publikum evoziert Schwanensee universelle Themen wie Liebe, Verrat und Erlösung, unterlegt mit Tschaikowskis einzigartiger Partitur. Nurejews Interpretation verleiht dem Ballett eine psychologische Komplexität, die es nicht nur zu einem visuellen Spektakel, sondern auch zu einer tief bewegenden Erzählung macht.

AV Ich würde sagen, dass die Musik Tschaikowskis einen großen Teil des Erfolges ausmacht. Jeder kennt das Leitmotiv von Schwanensee, und unser Orchester spielt die Partitur wunderbar. Auch die Geschichte dieses Balletts, die Tatsache, dass es von Nurejew speziell für das Wiener Staatsballett geschaffen wurde, ist etwas Besonderes. Zudem stehen in dieser Inszenierung 32 Ballerinen als Schwäne auf der Bühne, was wirklich beeindruckend ist, wenn man sieht, wie sich ihre Formationen wie ein Schwarm auf dem Wasser bewegen. Und natürlich Drama, Liebe und Verrat!

DD Zunächst ist Schwanensee ein weltweit bekannter Klassiker. Ein weiterer Aspekt ist Rudolf Nurejew selbst – eine charismatische und weltberühmte Persönlichkeit, die diese besondere Inszenierung für Wien geschaffen hat. Sie ist ein kulturelles Erbe von unschätzbarem Wert. Schließlich ist es die einzigartige Kombination aus der Magie des Stücks und der Bedeutung dieser Produktion, die den Ruf Wiens als Ballettstadt weltweit gefestigt und sogar verstärkt hat. Der Wiener Schwanensee ist für mich ein Juwel unseres Theaters und es ist von großer Bedeutung, diese Tradition auch in Zukunft zu bewahren.

Dass ein Meisterwerk wie Schwanensee noch lange sowohl Tänzerinnen und Tänzer als auch das Publikum verzaubert, garantieren die jeweiligen Einstudierer*innen und Ballettmeister*innen, die mit viel Feingefühl und intensiver Probenarbeit versuchen, Nurejews Geist und Stil an immer neue Generationen weiterzugeben. Doch schon Nurejew betonte:

»Um ein Theaterstück lebendig zu halten, damit es die gleiche Wirkung auf das Publikum hat wie bei seiner Uraufführung, muss es ständig weiterentwickelt werden. Andernfalls ist es tot, etwas unter einer Glasvitrine in einem Museum «.
Rudolf Nurejew