6 FRAGEN AN GREGORY KUNDE, DEN NEUEN KAPITÄN VERE
Gregory Kunde ist ein international gefeierter Opernsänger. In Billy Budd verkörpert er den komplexen Kapitän Vere, der von Schuldgefühlen geplagt wird, nachdem er Billy zum Tode verurteilt hat. Kunde betont, dass Billys positive Ausstrahlung die Konflikte im Stück entfesselt und vergleicht die Charaktere mit dem Verismo, da sie eine radikale Realität vermitteln. Mit seiner tiefen Einsicht in die Charakterpsychologie hebt sich Kunde als herausragender Vertreter der Opernkunst hervor.
Sie singen in Wien zum ersten Mal den Vere?
Richtig… und hoffentlich nicht zum letzten Mal. Das Repertoire, das ich lange Zeit gesungen hatte, ließ mich einen Bogen um die Musik Benjamin Brittens machen. Erst als ich Peter Grimes, einen, wenn auch ganz anderen, aber doch ebenfalls sehr zerklüfteten Charakter machen durfte, begann ich mich für Britten zu begeistern… und ich fragte mich von da an, wie ich diesen wunderbaren Komponisten bis dahin hatte verpassen können. Aber auch der Vere war nicht aktiv von mir angestrebt worden. Eines Tages rief mich die Staatsoper an und fragte: „Interessiert dich Billy Budd?“ Worauf ich überrascht entgegnete: „Aber das ist doch eine Baritonpartie.“ „Nein, nicht der Billy, die Rolle des Vere natürlich“, war die Antwort. Ich besorgte mir daraufhin die Noten und vergrub mich in die Partitur – und was soll ich sagen? Ich bin unheimlich glücklich, zugesagt zu haben und mit dem Vere an die Wiener Staatsoper zurückkehre zu dürfen.
Billy Budd spricht Kapitän Vere von der Schuld los, ihn zum Tod verurteilt zu haben. Aber wie sieht es der Komponist Britten? Begnadigt er ihn ebenfalls?
Ich bin da nicht so sicher. Im Prolog und im Epilog geht es genau darum: Vere weiß, dass er sich für Billy hätte einsetzen müssen, und er ist von Gewissenbissen und Schuldgefühlen geplagt. Der Frieden, den Vere am Ende der Oper findet, der kann nur vorübergehend sein. Ich bin sogar überzeugt davon, dass am Tag darauf die Frage der Schuld erneut vor den alten Kapitän treten wird. So wie schon seit Jahren und Jahrzehnten. Nicht umsonst findet der Prolog ja viel später, eine gefühlte Ewigkeit nach der eigentlichen Handlung, statt. Aber die Wunde heilt nicht, Vere kommt immer wieder zur selben Frage zurück: „Warum habe ich ihn nicht gerettet?“ Wenn man zum Beispiel in einen Autounfall verwickelt ist, bei dem ein anderer getötet wird, kann einen das Gericht hundertmal freisprechen – selber wird man sein Leben lang mit dieser Sache zu ringen haben. Und so ist es auch mit Vere. Da gilt der oft zitierte Satz: „Er wird bis zu seinem Tod damit leben müssen.“ Und das ist, denke ich, auch die Position von Benjamin Britten.
Aber warum heißt die Oper eigentlich nicht Vere, sondern Billy Budd? Es geht letztlich um Veres Schuld. Billy Budd und Claggart sind im Grunde nur Symbole, Prinzipien für Gut und Böse.
Ich denke, weil es eben Billy Budd ist, der all das Geschehen, aber auch die Schuldfrage auslöst. Weil Billy mit seinem Enthusiasmus, seiner Opferbereitschaft, seiner stets guten Laune und seinem bösen Ende jener Stein des Anstoßes ist, an dem sich alle abzuarbeiten haben, die mit ihm zu tun hatten: Vere zuvordererst, aber natürlich auch Claggart, dessen hasserfülltes Inneres so viel Licht nicht ertragen konnte. Und auch alle anderen Matrosen und Offiziere, die gezwungen waren, sich auf irgendeine Weise zu diesem außergewöhnlichen Menschen zu verhalten.
Sie singen sehr erfolgreich weltweit den Otello. Könnte man Vere mit Otello und Claggart mit Jago vergleichen?
Nein. Sicher, Claggart und Jago sind beide Abbilder des Bösen, beide stimmen ein entsprechendes Negativ-Credo an. Aber mit einem wesentlichen Unterschied: Jago zeigt sich nach außen hin sympathisch, als guter Freund. Claggart hingegen wird von allen gefürchtet und gehasst, da macht sich niemand Illusionen über sein Wesen. Und was Vere betrifft: Auch er weiß, was Claggart für eine Person ist, aber er benötigt ihn auf dem Schiff als Ordnungshüter. Aber er lässt sich von ihm nicht manipulieren – da unterscheidet Vere sich klar von Otello.
Welche Passage in Billy Budd berührt Sie am meisten?
Vielleicht jene, an der Billy Budd zum Kapitän gerufen wird, weil er mit der Meuterei-Verleumdung Claggarts konfrontiert werden soll. Billy kommt fast jubelnd, in der Annahme, er würde befördert werden, und verspricht dem Kapitän auf geradezu kindliche Art höchste Loyalität. Und dann wird er auf den Boden der Realität heruntergerissen: Nein, um eine Beförderung ginge es nicht, vielmehr um eine furchtbare Anschuldigung und er solle sich rechtfertigen. Hier passiert die Peripetie der Oper, der Moment, in dem der vollkommen Ehrliche und Wehrlose der perfiden, strategisch ausgeklügelten Bezichtigung ausgesetzt und letztlich durch sie vernichtet wird.
Mit welchem Komponisten würden Sie Britten am ehesten vergleichen?
Wie alle Komponisten hat sich auch Britten von vielen, die vor ihm waren, inspirieren lassen. Aber, wenn ich mir die Charakterzeichnungen ansehe, so merke ich eine Verwandtschaft zum Verismo. Alle seine Figuren, bis hin zur kleinsten, verströmen eine radikale Realität – die natürlich erst durch die Interpreten beglaubigt werden muss.