6 Fragen an den Dirigenten Mark Wigglesworth
Benjamin Britten gehört zu jenen Komponisten der klassischen Moderne, dessen Werke dauerhaften Eingang in die internationalen Spielpläne gefunden haben. Was ist das Besondere an seiner Musiksprache, das ihn so außergewöhnlich macht?
Ich denke, Brittens Opern haben eine Qualität, die sich erst in den Aufführungen wirklich entfaltet. Wenn man seine Partituren studiert, ist man sich bewusst, was er handwerklich tut. Seine Musik ist sehr klar, so klar, dass man sich manchmal fragt, ob sie nicht ein bisschen zu klar ist. Aber wenn man sie hört und erlebt, wird man überwältigt von einer ungeahnten Ebene, die plötzlich da ist. Dazu kommt, dass das Publikum all die Charaktere und Situationen in den Opern Brittens versteht, sich ihnen und ihren Erfahrungen nahe fühlt, sich in all die Geschichten hineinversetzen kann. Es ist für mich geradezu fantastisch, dass Britten als Opernkomponist so angenommen wird, denn Britten zeigt, was Opern wirklich leisten können – selbst in einer Musiksprache, die es nicht leicht macht, Melodien nachzusingen. Aber man ist vom dramatischen Geschehen auf der Bühne tief betroffen.
Eignet sich Billy Budd deshalb so sehr als Einsteiger-Oper für Opernneulinge?
Nun, das Drama funktioniert schon für sich ungemein, weil die Charaktere so klar geformt sind. Dazu kommt die Musik, die auf einer unterbewussten Ebene zusätzlich wirkt. Junge Menschen, die sich fragen, ob die Oper ein Medium ist, das sie verstehen können, werden also gerade dieser Oper folgen können wie einem Film oder einem Theaterstück.
Welche Komponisten haben den größten Einfluss im Werk Brittens hinterlassen?
Auf jeden Fall Mozart… und ganz sicher Verdi. Britten wusste für den zu vertonende Text das jeweils exakte Musiktempo zu finden. Was ich damit meine, ist, dass Britten genau verstand, einen Text, bestimmte Worte so in Musik zu kleiden, dass sie im theatralen Sinne ideal zur Geltung kommen. Man spürt also durch seine Musik den Text – so wie Mozart oder Verdi.
In Billy Budd gibt es einige zentrale rein orchestrale Passagen. Wodurch unterscheiden sich diese von den großen Zwischenspielen in Peter Grimes, dieser anderen wichtigen Oper Benjamin Brittens, die ebenfalls einen engen Bezug zum Meer hat?
Es gibt tatsächlich einen großen Unterschied. In Peter Grimes repräsentiert das Meer alles, was draußen vor sich geht. Und das ist allen voran die Gemeinschaft in der Stadt, zu der Peter Grimes nicht gehören kann. In Billy Budd, das die ganze Zeit auf hoher See spielt, hört man das Meer hingegen gar nicht. Man hört die Bewegung des Schiffes auf dem Meer. Denn das Schiff ist eine Analogie für eine in sich abgeschlossene Welt. Sehr klaustrophobisch und sehr intensiv, weil alle festsitzen. Das Unwetter bricht über das Schiff herein, Kämpfe, interne Probleme, aber niemand kann diesen engen Kosmos verlassen und eigene Wege gehen.
Bleiben wir beim Orchester: Gibt es puncto Orchestration irgendwelche Besonderheiten?
Von großer Bedeutung sind zwei Dinge: Erstens gibt es einen großen Schlagwerkapparat, vor allem was die tiefen Trommeln angeht. Sie sollen auf einer ersten Ebene die Spannung des Kampfes widerspiegeln. Allerdings stellt der Kampf mit den Franzosen natürlich eine Art Symbol dar für den Kampf, den die Menschen mit sich selbst führen müssen. Britten nutzt die rhythmische Spannung der Trommeln, um diesen inneren Konflikt hörbar zu machen. Zweitens ist interessant, dass wir es vorwiegend mit dunklen Klangfarben zu tun haben. Es gibt viele tiefe Holzbläser, die den Emotionen aus dem Zwischendeck entsprechen. Das korrespondiert wiederum mit der Tatsache, dass es nur Männerstimmen in der Oper gibt. Alles scheint aus dem Bauch des Schiffes zu kommen. Die hohen Töne hingegen fühlen sich in gewisser Weise von den Emotionen abgekoppelt an.
Will uns Britten durch dieses Stück, durch diesen kleinen, in sich geschlossenen Kosmos eine Botschaft zukommen lassen?
Ich halte diese Oper nicht unbedingt für ein extrem politisches Stück. Aber es gibt eine Aussage, und die lautet: Wenn wir nichts tun, werden wir es bereuen. Vere bedauert, dass er sich nicht für Billy eingesetzt hat. Wenn wir uns nicht um die anderen Menschen kümmern, wenn wir diejenigen, die in Schwierigkeiten sind, nicht schützen, dann sind wir am Ende selbst die Opfer. Man wird oft gefragt, warum ein bestimmtes Stück aufgeführt werden soll. Und unsere Antwort lautet: Weil die Fragen, die hier verhandelt werden, zeitgemäß sind. Es wäre schön, wenn das Publikum durch eine Aufführung angeregt wird, über seine eigenen Entscheidungen und die Wahl, die es im Leben trifft, nachzudenken. Vere ist am Ende ein gebrochener Mann, weil er nicht genug Mut hatte, aufzustehen. Er war schwach. Es ist sehr verlockend, schwach zu sein. Aber das kann nicht der Weg sein.