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Vorspiel auf dem Theater

AUSTRAHLUNGSTERMINE DER PREMIERE VON »FAUST« 

→ Gesamtausstrahlung auf play.wiener-staatsoper.at sowie auf myfidelio.at (live 29. April, ab 18.00 Uhr)
→ Gesamtausstrahlung Radio Ö1 (1. Mai, ab 19.30 Uhr)
→  ORF III »Kulissengesprächen mit Barbara Rett« um (9. Mai, 20.00 Uhr)
→  Gesamtausstrahlung auf ORF III im Rahmen von »Wir spielen für Österreich«( 9. Mai, 20.15 Uhr)
 

Wir sind in Paris, dem Uraufführungsort von Charles Gounods Faust. Wo sonst sollten wir sein mit dieser Oper, die eine so spezifisch französische Aneignung von Goethes Faust darstellt? Um 1850 wimmelte es auf den Pariser Theatern von solchen Aneignungen. Offenbar hatten sich viele Bearbeiter dabei den Rat des Goethe‘schen Theaterdirektors zu Herzen genommen: »Drum schonet mir an diesem Tag Prospekte nicht und nicht Maschinen.« Und so reisen Faust und Méphistophélès in manchen Pariser Versionen nicht in den Harz, sondern gleich nach Indien oder zum Vesuv. Dass Méphistophélès in einer solchen Welt kein intellektuelles »Prinzip der Negation« verkörpert wie bei Goethe, sondern einen pragmatischen Magier, versteht sich von selbst. Der französische Méphistophélès verkörpert das Prinzip der Sinnlichkeit, das auch »dämonisiert« noch teuflisch attraktiv bleibt, für Faust ebenso wie für das Publikum: Méphistophélès’ Macht verschafft Luxus in Form von Erotik, Schmuck, Champagner und extravaganten Reisen – und dem Publikum sinnliches Vergnügen in Form von schnell wechselnder reicher Ausstattung, pyrotechnischen Effekten und Slapstick.

Gounods Oper hält sich weit enger an Goethes Vorlage als andere Bearbeitungen dieser Zeit, und doch kann sie ihre Boulevard-Herkunft nicht verleugnen. Zwar verzichtet sie auf die anarchische Albernheit, die z. B. das Theaterstück Faust von Adolphe d’Ennery (1858 uraufgeführt) oder auch die direkte Libretto-Vorlage, Michel Carrés Faust et Marguerite (1850) auszeichnet. Von der Komik bleiben nur noch Spuren übrig. Dafür leistet sich die Oper einen ordentlichen Schuss Sentimentalität und die unverhohlene Parteinahme für Marguerite. Nicht ganz zu Unrecht warf die deutschsprachige Kritik dem Libretto die Simplifizierung der großen Tragödie vor. Der Oper deshalb einen distanzierenden neuen Titel wie »Margarethe« zu geben, erscheint dennoch überzogen – welche Oper dürfte dann noch den Titel ihrer literarischen Vorlage behalten?

Wir sind also in Paris: Von Notre Dame bis zur Metrostation »Stalingrad« sind es in Aleksandar Denićs Bühnenbild nur ein paar Schritte. Wir befinden uns etwa in der Endphase der Vierten Französischen Republik. In dieser Zeit verdichteten sich Konflikte der französischen Gesellschaft, die ihren Ursprung in der Entstehungszeit von Gounods Oper haben und die Europa bis heute prägen. Paris um 1960 wird für die Dauer der Aufführung das Zentrum des Raum-Zeit-Kontinuums, von dem aus wir die Welt betrachten können – mit Blick auf Vergangenheit und Zukunft sowie in die Ferne. Wir sind auch in der Entstehungszeit der Oper und wir sind auch in der Gegenwart. Drehbühne und Video erweitern unsere Wahrnehmung zusätzlich: Mit filmischen Mitteln wie Schnitten und Überblendungen werden aus den wenigen Schritten durch das Miniatur-Paris Verfolgungsjagden, Zeitsprünge oder Träume. Von Gounod nicht zu Ende erzählte Geschichten finden eine Fortsetzung im Video. Gleichzeitig stattfindende Episoden ergänzen sich, konkurrieren miteinander um die Aufmerksamkeit oder widersprechen sich. Die im Kern einfache Geschichte von Faust und Margarethe wird zu einer komplexen Collage aus Einzelepisoden, die sich gegenseitig in Zweifel ziehen, denn: »Auf Teufel reimt der Zweifel nur«, wie der Skeptiker in Goethes Walpurgisnachtstraum weiß.

Der Geist, der stets verneint, bleibt in der Vorstellung selbst unsichtbar, hat aber während der Probenzeit gewirkt: »Es ist mir wichtig, eine These zu setzen und sie vehement zu negieren, ohne danach sofort zur Synthese durchzudrücken, sondern sie eher offenzulassen. Ich bin für die Irritation, das mephistophelische Prinzip der Verneinung, ohne zu sagen für wen, warum und wieso,« erklärte Frank Castorf einmal in einem Interview.

Nach der Premiere in Paris 1859 zweifelte ein anderer: Gounod an der Qualität seiner Oper. Während der Entstehungszeit war ihm die Kontrolle über das Werk zunehmend entglitten. Rund ein Drittel des geplanten Textes war Strichen des Operndirektors Léon Carvalho zum Opfer gefallen. Vieles davon – wie die große Wahnsinnsszene von Margarethe oder weite Teile der Walpurgisnacht – hatte Gounod wohl gar nicht erst nicht komponiert. Bereits geschriebene und wieder gestrichene Nummern gingen verloren oder landeten über verschlungene Wege auf Dachböden, um dort nach über 100 Jahren wieder entdeckt zu werden. Inzwischen schuf sich der internationale Opernbetrieb seine eigene Werkgestalt – und der sinnenfrohe französische Méphistophélès wirkte dabei kräftig mit: Süffige Melodien siegten stets über intellektuelle Zweifel. Während weniger zugkräftige Nummern im Verlauf der Rezeptionsgeschichte fallengelassen wurden, entwickelte sich der Soldatenchor, trotz musikalischer Schlichtheit, eine der großen Erfolgsnummern, weil er dem militaristischen Zeitgeist entsprach. Gounod hatte ihn kurz vor der Premiere aus seiner Oper Ivan der Schreckliche entnommen. Aus den gesprochenen Dialogen wurden Rezitative – dabei verschwanden Zusammenhänge und Charaktere im Strudel der Rezeptionsgeschichte; Siébel erhielt 1863 eine neue Arie, und für die Aufführung an der Pariser Opéra komponierte Gounod 1869 das obligatorische Ballett. Auf Wunsch eines englischen Baritons hatte der Komponist 1864 aus einem Thema des Vorspiels eine Arie für Valentin gemacht. So wurde aus der hoffnungsvollen Melodie, die keiner Figur oder Situation eindeutig zugeordnet ist, ein Gebet für Margarethe: Die Gefühle des zwielichtigen Valentin für seine Schwester werden geadelt, indem ihre Hymne die Oper die Oper eröffnet. Ein disparates, manchmal fragmentarisch wirkendes Stück Musiktheater ist so entstanden, das umso stärker irritiert, je mehr man es als geschlossenes Ganzes zu hören versucht.

Während der internationale Opernbetrieb noch an Gounods Faust herumfeilte, verfasste der junge Arthur Rimbaud Gedichte, die den internationalen Sieg der bürgerlichen Ordnung und die Kolonialisierung im Namen der Demokratie bloßstellen, wie etwa in Mouvement (Bewegung):

Das sind die Eroberer der Welt,
Sie, die das persönliche chemische Abenteuer suchen,
Der Sport und die Bequemlichkeit reisen mit ihnen;
Sie führen mit sich die Erziehung
Der Völker, der Klassen und der Tiere, auf diesem Schiff
Ruhe und Taumel
In der Sinnflut des Lichtes,
An den schrecklichen Abenden der Forschung.

Die so kritisierte Kolonialisierung der Entstehungszeit der Oper führte zum Algerienkrieg und zum Ende der 4. Französischen Republik – in die Kern-Handlungszeit dieser Produktion.

Dass Rimbaud sich einige Jahre nach seinem Gedicht ausgerechnet als Waffenhändler im heutigen Äthopien versuchte, unterstreicht nur seine Desillusionierung: »Der ganze Kerl, dem’s vor sich selber graut, [...] triumphiert zugleich, wenn er sich ganz durchschaut« charakterisiert der Goethe‘sche Mephisto sich selbst. Eine Rettung, wie sie Gounod mit dem C-Dur-Osterchoral nahelegt, ist da nur schwer vorstellbar. Mehrere Figuren der Oper scheinen sich stattdessen aus der Welt zu verabschieden und verlegen sich zunehmend aufs Lesen der von der Bourgeoisie »verfemten Dichter« (»poetes maudits«) Baudelaire, Verlaine und Rimbaud.

Ann-Christine Mecke